Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)
tatsächlich zu glauben. Wenigstens tat sie so, um uns den Spaß daran nicht zu verderben.
»Ich verstehe sie aber nicht«, meinte sie verzweifelt und gab mir die Karte. »Was ist denn ein Dampfross?«
Ich sah eine Weile konzentriert auf die Pergamentrolle. »Damit könnte eine Bahn gemeint sein, die S-Bahn.«
»Und dieser Palast?«
Ich machte wieder ein nachdenkliches Gesicht. »An der Friedrichstraße gibt es einen Admiralspalast.«
Zoe entriss mir nervös die Schatzkarte. »Dann fahren wir jetzt sofort zu dieser Friedrichstraße. Wir müssen uns beeilen, sonst entdeckt noch ein anderer den Schatz.« Sie zog mich hektisch am Arm, als könnte sie es kaum noch erwarten. Ich wunderte mich, wie ernst sie die Sache nahm, ließ mich von ihrer Begeisterung jedoch seltsamerweise anstecken.
Als wir den S-Bahnhof Grunewald erreichten, war ich fast schon genauso aufgeregt wie sie.
Auf dem Bahnsteig wollte ich zwei Fahrscheine kaufen, als sich Zoe verärgert dazwischendrängte. »Piraten bezahlen doch nicht. Du musst wirklich noch viel lernen, wenn du ein echter Pirat werden willst.« Einen Augenblick sah sie aus wie eine Erwachsene, und ich hätte mich beinahe bei ihr entschuldigt.
»Und wenn wir erwischt werden?«, fragte ich.
»Wir werden nicht erwischt«, meinte Zoe selbstsicher, »und wenn, dann sagen wir einfach, dass wir als Piraten freie Fahrt haben.«
Ich stellte mir die Gesichter der Kontrolleure vor, wenn wir ihnen mitteilten, dass wir Piraten seien. In meinem ganzen Leben war ich noch kein einziges Mal schwarzgefahren, da ich der festen Überzeugung war, dass alle Kontrolleure nur auf den Moment warteten, mich ohne Fahrschein zu erwischen. Sternförmig würden sie sich aus allen Teilen Berlins auf mein Abteil zubewegen, um mich vor den Fahrgästen zu demütigen. Ich müsste auf Knien meinen Ausweis vorzeigen, Adresse und Telefonnummer mitteilen und laut und deutlich bekennen, dem Unternehmen schweren Schaden zugefügt zu haben. Danach würde ich aufgefordert werden, den Zug sofort zu verlassen, und bekäme sechs Monate Hausverbot.
Als die Bahn endlich kam und wir einstiegen, war ich mir sicher, dass uns jeder sofort ansah, dass wir keinen Fahrschein besaßen.
Unterdessen benahm sich Zoe derart auffällig, dass es mir peinlich war. Sie hüpfte mal auf dem einen, dann auf dem anderen Bein den Gang entlang. Sie raste das ganze Zugabteil hinauf und wieder hinunter. Sie drehte sich an der Haltestange so lange im Kreis, bis mir selbst vom Zuschauen schwindelig wurde. Kurz, sie unternahm alles, um die Leute gegen sich aufzubringen.
Leider musste ich schnell feststellen, dass die Leute nicht Zoe, sondern in erster Linie mich böse ansahen. Dabei hatte ich die ganze Zeit vollkommen regungslos dagesessen, als könnte ich Zoes Dauerbewegung durch meine Unbeweglichkeit wieder ausgleichen.
Mir gegenüber saß eine ältere Frau, deren Gesichtszüge zunehmend bitterer wurden, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sich ihr Ärger in wütenden Beschimpfungen entlud. Ich versuchte, woanders hinzusehen, aber wo immer ich hinsah, traf ich auf ähnlich bittere Gesichter. Das ganze Abteil schien nur darauf zu warten, dass einer den Anfang machte.
Für eine Entschuldigung war es jedoch längst zu spät. Jedes Wort, das ich jetzt noch sagte, hätte zweitausend Widerworte provoziert. Und was hätte ich überhaupt sagen sollen? Dass ich gar nicht der Vater dieses ungezogenen Mädchens war und deshalb auch keine Verantwortung trug? Dass ich den Ärger im Grunde mit allen Fahrgästen teilte, mir aber die Hände gebunden waren?
Stattdessen machte ich etwas ganz und gar Erstaunliches: Ich schlug locker ein Bein über, verschränkte die Arme und lächelte. Auf diese Weise machte ich allen Mitreisenden unmissverständlich klar, dass mir ihre Meinungen vollkommen gleichgültig waren.
Meine Reaktion verblüffte nicht nur mich selbst, sondern offensichtlich auch alle Fahrgäste, deren Ärger sich in vereinzeltem Kopfschütteln löste. Ich war fast ein wenig neidisch auf sie, da ich mir nicht dabei zusehen konnte, wie mir die anderen gleichgültig waren.
Als wir an der Friedrichstraße ausstiegen, hatte ich das Gefühl, innerlich gerade um einige Zentimeter gewachsen zu sein. Bedauerlicherweise konnte ich meinen Erfolg mit niemandem teilen. Ich wusste nicht mal genau, worin dieser Erfolg überhaupt lag. Die meisten Erfolgserlebnisse in meinem Leben waren nicht kommunizierbar, sodass ich auch nicht in der Lage war, sie
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