Wollust - Roman
euch an, wenn sie so weit sind, die Leiche zu bewegen.«
»Aber hallo!« Marge sah ihren Chef und langjährigen Freund an. »Bei dir alles in Ordnung, Rabbi?«
»Bin nur müde.«
»Wie geht’s dem Jungen?«
»Er ist immer noch elternlos.« Decker massierte sich die Schläfen. »Ich habe Mitleid mit ihm. Und ich könnte mich dafür ohrfeigen, dass ich mich in das Leben seiner Mutter eingemischt habe.« Er gab eine Kurzfassung des Tages zu Protokoll. »Ich weiß nicht, ob sie ernsthaft in Schwierigkeiten steckt – dann würde ich mich schuldig fühlen, wütend auf sie zu sein –, oder ob sie mich verarscht hat und mein Zuhause als sicheren Hafen benutzt, um dort ihren Sohn abzuladen, während sie sich neu erfindet.«
»Und du hast rein gar nichts von Donatti gehört?«
»Ich nicht, aber der Junge hat zugegeben, dass er ihn gestern getroffen hat.«
»Also ist er in der Stadt oder…«
»Wahrscheinlich längst wieder weg. Donatti hat Gabe seinen Pass, seine Geburtsurkunde und einen Haufen Bargeld gegeben. Für mich steht fest, dass Donatti in absehbarer Zeit nicht vorbeikommen wird, um seinen Sprössling aufzusammeln.«
»Lebt nicht seine Tante in Los Angeles?«, fragte Oliver.
»Seine Tante und sein Großvater.«
»Also hat er die Wahl. Warum nimmst du die Last auf dich?«
»Er hat angeboten, zu seiner Tante zu ziehen. Aber er möchte lieber bei mir bleiben.«
»Es ist nicht seine Entscheidung, sondern deine, Rabbi.«
»Ich weiß. Ich sollte ihn gehen lassen. Aber mein Gewissen sagt mir, dass es nicht das Richtige ist, ihn in die Obhut eines verantwortungslosen Mädchens zu übergeben.«
»Siehst du, genau das ist dein Problem«, meinte Oliver. »Du hörst auf dein Gewissen. Aus persönlicher Erfahrung kann ich dir versichern, Deck, dass dabei nichts Gutes herauskommt.«
Bis zwei Uhr morgens war der Leichnam entfernt, die Beweise eingetütet, der Tatort gereinigt und an der Wohnungstür ein Vorhängeschloss angebracht worden. Decker musste nicht unbedingt mit seinen beiden erstklassigen Polizisten warten, aber er entschied sich trotzdem dafür. Vor ihrem Anruf hatte er es zu Hause geschafft, etwas zu Abend zu essen, obwohl es eine Herausforderung war, den beiden Teenagern dabei zusehen zu müssen, wie sie im Essen herumstocherten. Als Marge ihm telefonisch die Neuigkeiten über Crystal überbrachte, war er schockiert, aber ein Teil von ihm auch erleichtert, dass er sich aus dem Staub machen und etwas Sinnvolles tun konnte.
»Wir sehen uns morgen früh«, verabschiedete sich Decker. »Ich komme so gegen acht.«
»Pass auf dich auf.« Marge klimperte mit ihrem Schlüsselbund. »Ich würde gerne noch mal bei Mandy Kowalski vorbeischauen.«
Oliver sah auf die Uhr. »Weißt du, wie spät es ist?«
»Ich werde nicht an ihre Tür hämmern, sondern will nur nachsehen, ob ihr Auto auf dem Parkdeck steht.«
»Das Parkdeck ist mit einem Tor gesichert. Was schlägst du vor, um da hineinzugelangen?«
»Dann linse ich eben nur durch die Stäbe. Komm, Scotty, sie hat uns angelogen über ihr Treffen mit Adrianna in der Cafeteria. Jetzt ist Crystal tot. Ich will nur nachsehen, ob das Auto dort steht.«
»Möchtest du, dass ich mit ihr hinfahre, Oliver?«, bot Decker sich an.
»Nee, ich mach das schon«, grummelte Oliver. »Das hier ist unser ganz normales Geplänkel. Ich meine, wer braucht denn überhaupt so etwas wie Schlaf?«
»Schlafen wird völlig überschätzt«, behauptete Marge.
»Seit wann bist du denn eine Nachteule?«
»Seit meine Tochter ausgezogen ist. Manchmal kann ich nur schwer einschlafen. Ich muss ständig an sie denken.«
»Aber du hast sie adoptiert, als sie zehn war. Du hast jahrelang mit ihr zusammengelebt.«
»Damals war damals, und jetzt ist jetzt. Ich kann auch nichts dafür, dass ich mir Sorgen mache.«
»Kinder sind wie Heroin«, sagte Decker. »Eine schmerzhafte Injektion, wenn sie da sind, aber selbst wenn sie nicht da sind, sind sie wie der nächste Schuss: Du kannst einfach nicht aufhören, daran zu denken.«
Als die Uhr sechs schlug, gab Decker auf. Durch die Vorhänge drang ein schwacher Lichtschein, der durch Wolken gedämpft wurde. Er schlüpfte aus dem Bett, zog seinen Bademantel an und beschloss, Kaffee aufzusetzen. Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm, aber es sollte nicht sein, denn Gabe war ihm bei Sonnenaufgang zuvorgekommen und saß in T-Shirt und Jeans bereits am Frühstückstisch; sein Laptop war aufgeklappt, aber zur Seite geschoben. Er las Deckers
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