Wollust - Roman
Morgenzeitung. »Hallo.«
»Hallo«, wiederholte Decker – ein bisschen mürrisch, aber vielleicht war er einfach nur erschöpft.
»Ich war so frei, den Kaffee aufzusetzen. Möchten Sie eine Tasse?«
»Danke, ich bediene mich selbst. Wie geht es deiner Hand?«
Der Junge legte die Zeitung weg und wackelte mit den Fingern.
»Tut noch weh. Ich vermute mal, das ist bloß eine Phase. Wird schon gehen.«
»Pass einfach darauf auf. Du bist früh unterwegs.«
»Ich konnte nicht schlafen. Letzte Nacht hab ich Sie nach Hause kommen hören. Ganz schön spät. Ist alles in Ordnung?«
Decker musste insgeheim lächeln. Aus seiner Familie verschwendete niemand mehr einen Gedanken an seine Arbeitszeiten. »Viel zu tun.« Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich an den Tisch. »Wie geht es dir?« Diesmal war die Frage ernst gemeint.
»Gut. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Jetzt lachte Decker laut. »Deine Mutter hat gesagt, du seist ein guter Junge. Sie hat nicht gelogen.«
»So bin ich halt.« Er setzte sich seine Brille auf. »Schreiben Sie’s auf meinen Grabstein. Ich war ein guter Junge.«
»An deiner Stelle würde ich vor Wut kochen.«
Gabe blickte zur Decke. »Ich glaub, es kommt langsam zum Vorschein. Wie in der Schlägerei mit dem Typen gestern.« Er schüttelte den Kopf und zog ein Stück Papier aus seiner hinteren Hosentasche. »Weil ich nicht schlafen konnte, hab ich mit meinem Computer rumgespielt und bin auf die Internetseite des Krankenhauses gegangen.«
»Von welchem Krankenhaus?«
»Stimmt, Sie können ja meine Gedanken nicht lesen. Das Krankenhaus, in dem Mom arbeitet.«
Das erregte Deckers Aufmerksamkeit. »Und, fündig geworden?«
Gabe reichte ihm den Zettel. »Ich hab alle indischen Namen aufgeschrieben, die in den letzten Jahren mit der Kardiologie oder der Herz-Kreislauf-Station in Verbindung gebracht werden können. Davor lebten Mom und ich in Chicago. Meiner Meinung nach sind ein paar Namen vielleicht weiblich. Ich weiß nicht, ob einer dieser Männer derjenige ist, mit dem
meine Mutter sich unterhalten hat, aber ich hatte sonst nichts zu tun, also …«
Decker las die Nachnamen durch. Chopra, zwei Guptas, Mehra, zwei Singhs, Banerjee, Rangarajan, Rajput, Yadav, Mehta und Lahiri. »Keiner davon kommt dir bekannt vor?«
»Nur Mehta, und das auch nur wegen des berühmten Dirigenten. Wie ich bereits sagte, sie hat mir den Namen des Mannes nicht verraten.«
»Würdest du ihn auf einem Foto wiedererkennen?«
»Ich glaub nicht.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Wenn Sie wollen, kann ich die Namen googeln, einen nach dem anderen. Mal sehen, ob einer von denen einen Maharadscha als Vater hat. Ich geh heute nicht zur Schule. So hätte ich wenigstens was zu tun.«
Decker fixierte den Jungen. »Und was würdest du mit dieser Information anstellen?«
»An Sie weitergeben.«
»Auch an deinen Vater?«
Gabe verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum sollte ich?«
»Warum nicht? Er sucht auch nach deiner Mutter.«
»Lieutenant, wenn er nach ihr sucht, bedeutet das, dass er genauso im Dunkeln tappt wie wir. Was wär denn falsch daran, wenn er sie schneller als Sie findet?«
»Meinst du das ernst?«
»Er würde ihr nichts antun.«
»Er hat ihr bereits etwas angetan.«
»Na ja, ich glaub, er würde das nicht noch mal tun.«
»Hat er dir das bei eurem Treffen gesagt?«
»Ja.«
»Und du glaubst ihm?«
»Ja.« Die Wut wurde in seinen Augen sichtbar. »Aber er bittet mich nicht telefonisch um Hilfe, und ich kann ihn nicht
erreichen, also ist diese ganze Diskussion hier völlig überflüssig. Ich hätte Chris diese Infos einfach in eins seiner Etablissements zumailen können. Hab ich aber nicht. Wenn Sie meine Unterstützung wollen, google ich diese Namen. Wenn nicht, ist das auch okay.«
Lass ihn in Ruhe, Decker. Chris ist immer noch der Vater des Jungen, und du wirst an diesem Familienband nie etwas ändern. »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Deine Unterstützung ist jederzeit willkommen. Klar, geh die Namensliste für mich durch. Und in Zukunft ist das, was du mit deinem Dad machst, allein deine Sache.«
Gabe schwieg. Dann sagte er: »Ich weiß selbst nicht, warum ich den Scheißkerl in Schutz nehme.«
»Er ist dein Vater. Ihr habt eine gemeinsame Geschichte.«
»Ja, und das meiste daran ist schlecht.« Eine Pause. »Das ist nicht ganz fair. Er hat auch ein paar gute Seiten. Er hat nur beschlossen, sie nicht besonders oft zu zeigen.« Er sah
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