Wollust - Roman
Auto. Sein Gepäck bestand aus einem Schulrucksack, den er nur an einem Riemen trug, einem Laptop und einem kleinen Seesack. Er war groß für sein Alter, mit spindeldürren Beinen. Seine Hose hatte Mühe, auf den nicht existierenden Hüften hängen zu bleiben.
Rina steckte den Schlüssel ins Schloss der Vordertür. »Lieutenant Decker und ich haben vier Kinder, aber es lebt nur noch unsere jüngste Tochter bei uns. Sie ist siebzehn.« Sie öffnete die Haustür und stieß ein lautes »Hallo!« aus. Hinter ihrer geschlossenen Zimmertür erwiderte Hannah die Begrüßung.
»Wir haben Besuch!«, sagte Rina. »Könntest du mal kurz kommen?«
»Jetzt?«
»Muss echt nicht sein.« Gabe zuckte zusammen.
Rina versuchte, gelassen zu wirken, als Hannah in Schlafanzug und Bademantel aus ihrem Zimmer gestürmt kam. Die beiden Teenager schätzten sich mit einer gezielten kurzen Musterung ab. »Hannah«, sagte Rina, »das ist Gabe Whitman. Er bleibt heute Nacht bei uns. Würdest du ihm das Zimmer deiner Brüder zeigen und eins der Betten herrichten?«
»Ich kann das machen«, sagte Gabe mit glühenden Wangen.
»Hannah auch«, sagte Rina.
»Bin schon dabei.« Hannah zuckte mit den Achseln. »Hast du Hunger? Ich wollte mir gerade ein paar Kirschen holen. Willst du mal den Kühlschrank inspizieren?«
»Äh … klar.« Gabe folgte ihr in die Küche, und damit war alles geklärt.
Manchmal war Lebenshilfe durch Gleichaltrige weitaus mehr wert als die beste Bemutterung.
Nachdem Hannah die Kirschen abgewaschen hatte, reichte sie ihm eine Handvoll in einer Papierschale. »Die schmecken wirklich lecker. Ich glaube, meine Mutter kauft sie auf dem Bauernmarkt.«
»Obst und Gemüse sind ziemlich gut hier unten.«
»Hier unten? Woher kommst du?«
»New York.«
»Stadtzentrum?«
»Vorstadt.« Er nahm seine Kirschen unter die Lupe. »Kennst du New York?«
»Ich habe viele Freunde da.« Sie aß eine Kirsche und spuckte den Kern aus. »Und mein Bruder geht auf die Einstein Med School.«
»Meine Mutter hat eine Zeitlang am Mount-Sinai-Krankenhaus gearbeitet«, sagte Gabe. »Sie ist Ärztin in der Notaufnahme.«
»Interessierst du dich für Medizin?«
»Kein bisschen.« Endlich steckte er sich eine Kirsche in den Mund und aß sie auf. »Also, ich schaff das wirklich selber mit der Bettwäsche.«
»Mir nur recht. Darf ich fragen, warum du hier bist?«
»Meine Mutter ist weg … weg wie in: verschwunden. Ich glaube, dein Dad sucht nach ihr. Er meinte, es ist illegal, wenn ich allein im Hotel wohne, also hat er angeboten, mich heute Nacht hier schlafen zu lassen.«
»Das klingt ganz nach meinem Dad.«
»Ist er nett?«
»Total nett«, sagte Hannah. »Er wirkt sehr polizistenmäßig, aber er hat ein weiches Herz. Meine Mutter ist noch weicher. Sie sind beide leicht zu bequatschen. Willst du was trinken?«
»Nein, danke. Ich sollte mal besser ins Bett gehen.« Er schob die Obstschale über den Tresen. »Danke für die Kirschen. Ich glaube, ich hab doch keinen großen Hunger.«
»Meinst du, du kannst einschlafen?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Ich zeig dir, wie der Fernseher funktioniert. Ein total abgefahrenes Ding, stammt noch aus der Steinzeit. Meine Brüder sind schon eine Weile aus dem Haus. In welche Klasse gehst du?«
»Ich war in der zehnten. Meine Mom und ich sind erst neulich umgezogen, deshalb bin ich hier noch nicht zur Schule gegangen.«
»Dann bist du fünfzehn?«
»In vier Monaten. Eine Menge Leute denken, ich wär älter, weil ich so groß bin.«
»Ja, geht mir genauso. Stört mich aber nicht.« Sie hüpfte vom Tresen. »Mir nach. Und versuch, dir nicht zu viele Sorgen wegen der ganzen Sache zu machen. Mein Dad mag ja in meinen Händen windelweich sein, aber wenn’s um die Polizeiarbeit
geht, ist er knallhart. Egal was, er kommt allen Sachen auf den Grund.«
»Das ist gut.« Gabe verzog das Gesicht zu einem schwachen Lächeln. »Ich hoffe nur, dass er nicht in Grund und Boden versinkt, wenn er dort unten ankommt.«
Deckers erster Anruf galt seiner Lieblinkskollegin, Detective Sergeant Marge Dunn. »Ich hab hier was und könnte Hilfe gebrauchen.«
»Was ist passiert?« Und mit dem nächsten Atemzug fragte sie: »Hat es mit Terry McLaughlin zu tun?«
»Sie ist verschwunden.« Nachdem er ihr die Sachlage erläutert hatte, fuhr Decker fort: »Sie hat eine Schwester und einen Vater hier in der Stadt. Ich habe bereits ihre Schwester angerufen und sie über den Stand der Dinge aufgeklärt. Sie hat seit
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