Wollust - Roman
erhalten bleiben, Mr.…?«
»Whitman«, sagte Gabe.
»Einen Tag, vielleicht auch zwei«, antwortete Hannah an seiner Stelle.
»Haben Sie jemals darüber nachgedacht, an unsere Schule zu wechseln? Wir haben sogar ein Orchester, und wir bieten Solisten genug Freiräume.«
»Ich werd’s im Hinterkopf behalten«, sagte Gabe.
»Haben Sie schon mal Solostücke aufgeführt?«
Es kam überhaupt nicht in Frage, dass er ihr vorspielen würde. Er wollte Anonymität, nicht Aufmerksamkeit. »Seit ’ner ganzen Weile nicht mehr. Ich bin ein bisschen eingerostet.«
»Ich würde es gerne hören, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen.«
»Klar. Ein andermal.«
Als die Lehrerin wegging, flüsterte Hannah: »Tut mir echt leid, aber sie ist gnadenlos.«
»Sie ist eben eine Lehrerin.« Er wartete einen Moment. »Hannah, wenn ich morgen wieder mit dir herkommen muss, glaubst du, ich könnte hier üben, wenn niemand sonst den Raum benutzt? Es ist doch echt ziemlich blöd für mich, in deine Schule zu gehen und irgendein Zeug zu lernen. Meine Zeit wär mit Üben besser angelegt. Na ja, ist nicht so, dass ich unbedingt spielen müsste , aber es beruhigt mich.«
»Das ist bestimmt kein Problem, aber du musst dir die Erlaubnis bei Mrs. Kent holen.« Hannah zog die Stirn hoch. »Ich warne dich: Wenn du das tust, gehst du einen Pakt mit dem Teufel ein. Als Gegenleistung wird sie dich ins Orchester holen.«
»Dann geh ich eben hin. Solange ich kein Solo spielen muss.«
»Wie du meinst. Aber vielleicht willst du dir das mit dem Orchester noch mal überlegen. Wir sind wirklich schlecht. Schlechter als der Chor.«
»Kein Problem, Hannah. Ich hab schon Schlimmeres ausgehalten als ein paar falsche Töne.«
»Wenn’s nur ein paar wären, würde ich ja nichts sagen.« Sie wackelte mit dem Finger vor seinem Gesicht herum. »Und hör auf, so niedlich aus der Wäsche zu gucken. Du bringst die gesamte Sopran-Fraktion aus dem Gleichgewicht. Sie haben so schon genug Schwierigkeiten damit, den Ton zu halten.«
Nachdem die Blancs sein Büro verlassen hatten, fühlte sich Decker, als hätte er eine dicke Winterjacke in einem überheizten Raum ausgezogen: zehn Kilo leichter und in der Lage, endlich einmal tief durchzuatmen. Kathy Blanc hatte ihm erzählt, dass in der Wohnung ihrer Tochter alles normal wirkte, aber auch zugegeben, dass sie nicht intensiv nachgesehen hatte.
Decker teilte sich zunächst seine Zeit ein. Er würde es schaffen, für einen kurzen Zwischenstopp zum Abendessen zu Hause vorbeizuschauen, und danach zu Adriannas Wohnung fahren … oder sollte er vielleicht besser ins Krankenhaus fahren und sehen, was Marge und Oliver so trieben? Er war in Gedanken versunken, als sein Handy klingelte, und verpasste es, auf die Nummer des Anrufers zu achten. Das hätte ohnehin nichts genützt, da die Nummer unterdrückt war, aber die Stimme sagte ihm gleich, wer allein auf der Welt das nur sein konnte.
»Was wollen Sie?«
Er klang eher entnervt als beunruhigt, aber das war typisch Donatti. Deckers Puls beschleunigte sich. »War Ihr Handy kaputt, Chris? Ich rufe Sie seit vierundzwanzig Stunden an!«
»Sie wissen doch, wie das ist, Decker. Manchmal will man einfach nicht gestört werden.«
»Wo sind Sie gewesen?«
»Wo ich gewesen bin?« Gelächter drang durchs Telefon. »Welchen Unterschied macht das?«
»Ich frage mich ja nur, was Sie so beschäftigt haben könnte, dass Sie nicht mal Ihre Telefonanrufe überprüfen.«
Noch ein Lacher. »Sie klingen angepisst.«
»Wo sind Sie gewesen?«
»Jetzt klingen Sie so, als würden Sie mich befragen. Ich mag Ihren Tonfall nicht. Um genau zu sein, ich mag Sie nicht. Sie haben also zwei Sekunden, um mir mitzuteilen, was Sie wollen, bevor ich auflege.«
»Mich wollen Sie nicht zurückrufen, einverstanden. Aber ich hätte gedacht, Sie würden wenigstens die Anrufe Ihres Sohnes erwidern. Er war so außer sich, dass er mich angerufen hat.« Die erwartete Pause folgte auf dem Fuße. Sie konnte echt oder gespielt sein. »Wir haben hier ein Riesenproblem, Chris. Terry ist verschwunden.«
Dieses Mal dauerte die Pause viel länger. »Reden Sie weiter.«
Der Ärger war verraucht, aber die Stimme blieb ausdruckslos. »Mehr gibt’s da nicht zu sagen. Terry ist verschwunden.«
»Wie meinen Sie das: verschwunden ?«
»Wir können sie nicht finden.«
»Ich weiß verdammt noch mal, was das Wort ›verschwunden‹ bedeutet. Was meinen Sie damit, dass sie verschwunden ist?«
Donatti war in fünf
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