Wollust - Roman
Sekunden von null auf hundert. Er war offensichtlich beunruhigt, aber das konnte ebenfalls vorgetäuscht sein. Die Glaubwürdigkeit seiner Gefühle ließ sich über das Telefon unmöglich überprüfen. »Sie müssen wirklich aufs Revier kommen, Chris. Und wir müssen reden.«
»Erst sagen Sie mir, was für eine Scheiße da läuft.«
»Ihr Sohn rief mich gestern gegen neun Uhr abends an. Er war verzweifelt. Terry war verschwunden. Sie ging nicht an ihr Handy, also rief er Sie an. Als er keinen seiner Elternteile erreichen konnte, rief er mich an. Also nahm ich ihn bei mir auf, weil er nicht bei seiner Tante schlafen wollte. Folglich bin ich jetzt für Ihren Sprössling verantwortlich, bis Sie hier auftauchen. Wo sind Sie?«
»In Nevada. Meine Empfangsdame hat mich über Ihren Anruf informiert.«
»Sie müssen nach Los Angeles kommen. Und wir müssen uns unterhalten.«
»Was zum Teufel ist passiert?«
»Das weiß ich nicht, und darum müssen wir reden …«
»Scheiße, dann reden Sie jetzt mit mir!«
»Nicht am Telefon.« Decker blieb ruhig. »Persönlich. Sie müssen sowieso herkommen. Ihr Sohn ist hier, schon vergessen?«
»Okay, okay, ich denk kurz nach.« Er murmelte irgendwas vor sich hin. »Wann ist sie … ich meine, wie lange ist sie schon verschwunden?«
»Lang genug, dass es problematisch wird.«
»Ist ihr Auto weg?«
»Chris, Ich kann Ihnen das am Telefon nicht sagen. Wie schnell können Sie nach L.A. zurückkommen?«
»Scheiße! Wie spät haben wir’s?«
»Ungefähr sechs.«
»Verdammt!« Durchs Handy erklang das Geräusch von etwas, das zu Bruch ging. »Verdammt! Verdammt! Verdammt! Wann ist das passiert? Gestern?«
»Ja, Chris. Ich erkläre Ihnen alles, wenn Sie in L.A. sind. Wie schnell können Sie hier sein?«
»Ich brauche zwei Stunden nach Vegas. Bin gefahren, deshalb habe ich mein Flugzeug nicht hier. Bis ich in Vegas beim Flughafen bin und in L.A. landen kann, wird es mindestens elf oder so. Die Autofahrt würde fünf oder sechs Stunden dauern … verdammt! Ich sehe zu, ob ich was am Flughafen mieten kann, und rufe Sie zurück.« Donatti unterbrach die Verbindung.
Decker legte sein Handy zur Seite und trommelte in Erwartung weiterer Informationen mit den Fingern auf seinem Schreibtisch herum. Aber seine Gedanken kreisten um einen bestimmten Gedanken.
Bin gefahren, deshalb habe ich mein Flugzeug nicht hier.
Bin gefahren.
Zwischen Kalifornien und Nevada gab es jede Menge unbebautes Land und menschenleere Highways. Die weiten, unbesiedelten Wege, die sich durch die Mojave-Wüste schlängelten, unendliche Kilometer im Nichts, waren schon immer dankbare Abladeplätze gewesen.
11
Selbst nach der Happy Hour war die Bar noch knallvoll. Das ICE galt als eins dieser angesagten Restaurants, in dem Wände und Decke mit von hinten beleuchteten Paneelen bestückt waren, die während der Dauer eines abendlichen Dinners die Farbschattierungen wechselten. Momentan herrschte Wasserblau vor und verlieh dem Lokal die Atmosphäre eines Iglus. Der Innentemperatur käme der Hauch eines arktischen Luftstoßes durchaus entgegen. Es war tagsüber für die Jahreszeit unerträglich heiß gewesen. Obwohl Marge sich der Hitze entsprechend für eine beigefarbene Leinenhose und eine weiße Baumwollbluse entschieden hatte, fühlte sie sich verschwitzt, als ob man ihr die Kleider auf den Körper geklebt hätte. Am Telefon hatte Sela Graydon gesagt, sie würde einen grauen Anzug, eine rote Bluse und schwarze Pumps tragen, daher war die Frau leicht zu entdecken.
Die Anwältin hatte dazu noch eine braune, wellige Haarmähne, die ihr bis auf die Schulterblätter fiel. Sie saß mit gesenktem Kopf und starr nach unten auf den Tresen gerichtetem Blick an der Bar, das Kinn in beide Hände gestützt. Ein etwa dreißigjähriger Mann mit goldblonden Haarstoppeln redete pausenlos auf sie ein. Gelegentlich hob Sela ihren Kopf, wischte sich mit den Fingerspitzen über ihre Augen und starrte weiterhin ins Nichts. Marge schlängelte sich durch die Menschenmenge und schnappte sich den Barhocker neben ihr. »Sela Graydon?«
Die Frau sah Marge flüchtig an. »Sie sind die Polizistin?«
»Sergeant Marge Dunn. Wir haben telefoniert.« Der blonde Mann streckte Marge eine Hand entgegen. »Rick Briscoe. Ich arbeite mit Sela bei Youngblood, Martin and Fitch.« Marge schüttelte seine Hand, so kurz es eben nur ging. »Ich dachte mir, sie sollte besser nicht allein sein.«
»Nett von Ihnen.« An Sela gewandt fuhr Marge fort:
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