Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)
dm-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, über eine Woche in einem Hotel in Zell am See zusammen. Wir trafen uns am frühen Morgen und haben uns bis zum Abend mit den Fragen unserer Unternehmensphilosophie beschäftigt. Dabei haben wir keineswegs nur geredet. Jeder hatte zwei Stunden am Tag Zeit, einen Speckstein nach seinen eigenen Vorstellungen zu bearbeiten. Dabei kamen sehr verschiedene Objekte heraus. Das reichte von der abstrakten Figur über das Abbild eines Fußes bis zum überdimensionierten Aschenbecher.
Nach dem Abendessen kamen wir dann wieder zusammen, und dann hat uns Hellmuth J. ten Siethoff Texte vorgelesen. Man muss sich klar machen: Wir waren durchweg Kaufleute. Kaum einer hatte jemals was von Parzival oder der Gralsburg auch nur gehört. Manch einer hätte gewiss lieber einen James-Bond-Film gesehen; ein anderer schlummerte vielleicht sogar vorübergehend ein. Aber doch haben diese künstlerischen Arbeiten und Texte etwas in uns ausgelöst. Jedenfalls stand am Ende der Woche eine Unternehmensphilosophie mit Grundsätzen, die bis heute nichts an Gültigkeit verloren haben. Diese dort formulierten Sätze stammen nicht von Edelfedern teurer Werbeagenturen, die mehr oder weniger verklausuliert Varianten des lyrischen Bürospruchs »Bei uns ist der Mensch Mittel. Punkt!« zu Papier bringen. Unsere Grundsätze haben wir bis zum letzten Komma selbst erarbeitet – und immer wieder stießen wir später auf Fragen, bei denen wir genau auf diese Grundsätze zurückgeworfen wurden.
Zum Beispiel gibt es da den Mitarbeitergrundsatz : »Wir wollen allen Mitarbeitern helfen, Umfang und Struktur unseres Unternehmens zu erkennen, und jedem die Gewissheit geben, in seiner Aufgabe objektiv wahrgenommen zu werden.«
Das klingt einfach, wenn man noch mit hundert oder fünfhundert Mitarbeitern zu tun hat. Inzwischen arbeiten bei dm über 46 000 Menschen. Wie kann man jedem die Gewissheit geben, in seiner Aufgabe objektiv wahrgenommen zu werden? Solche Ziele fordern uns bis heute immer wieder heraus.
Das wird auch nicht einfacher bei diesem Grundsatz: »Wir wollen allen Mitarbeitern Möglichkeiten geben, gemeinsam voneinander zu lernen, einander als Menschen zu begegnen, die Individualität des Anderen anzuerkennen, um Voraussetzungen zu schaffen, sich selbst zu erkennen und entwickeln zu wollen und sich mit den gestellten Aufgaben verbinden zu können.« Aber wir suchen und finden Lösungen. Immer wieder aufs Neue.
Konsumbedürfnisse veredeln
Am meisten beschäftigt hat uns aber in den letzten drei Jahrzehnten, was wir damals als Kundengrundsatz formuliert haben: »Wir sehen als Wirtschaftsgemeinschaft die ständige Herausforderung, ein Unternehmen zu gestalten, durch das wir die Konsumbedürfnisse unserer Kunden veredeln.«
Konsumbedürfnisse veredeln . Andere hätten vielleicht gesagt: Wir wollen die Bedürfnisse befriedigen, ohne sie billig zu stimulieren. Denn das ist doch das übliche Tagesgeschäft in unserer zynischen Handelswelt: Unzählige Unternehmen leben davon, dass sie bei den Menschen Bedürfnisse wecken, nur um ihnen irgendeinen Kram anzudrehen. Es wäre also schon ein vornehmes Anliegen gewesen, als Unternehmen auf aggressive Werbung zu verzichten. Wir hätten sagen können, wir möchten den Menschen nicht vorgaukeln, sie kauften Glück statt Nudeln oder sie bekämen Liebe statt Schnickschnack. Wir hätten auch festschreiben können, dass wir Verkaufsstrategien entwickeln, die den Kunden nicht – wie manches Versicherungsprodukt – in Abhängigkeit bringen, sondern wir möchten dem Kunden die Freiheit lassen, selbst zu entscheiden, was er wann braucht und was nicht.
Aber nein, als wir in dieser Weise über die Unternehmensphilosophie nachdachten und ohne Druck aus uns selbst heraus formulieren durften, was uns wichtig ist, schrieben wir fest, dass wir die Konsumbedürfnisse »veredeln« wollten! Das ist ein hoher Anspruch. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass es allen Menschen – wenn sie denn die Freiheit haben, darüber in Ruhe nachzudenken – ein Anliegen ist, als Gemeinschaft vorbildlich in unserem Umfeld zu leben. Das entspringt dem Menschsein. Deswegen haben wir einen hohen Anspruch formuliert und nicht einen, der gut klingt und leicht zu erfüllen ist.
In der Praxis hat uns dieser Kundengrundsatz immer wieder vor Herausforderungen gestellt. Denn veredelt beispielsweise ein Mickey-Maus-Pflaster das Konsumbedürfnis, oder wollen Kinder ein solches Pflaster, obwohl sie gar keine Wunde
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