Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)
Organismus, unser wahrnehmungsgeleitetes Management und insbesondere unsere dialogische Führung, wie wir sie heute bei dm praktizieren, haben sich erst auf der Basis dieser Fragen entwickeln können.
Wenn ein Unternehmer die Welt und seine Mitmenschen nicht liebt, wird er auf Dauer nicht erfolgreich sein. Es gibt Unternehmer, die denken: Mitarbeiter sind erstens gierig und zweitens klauen sie. Die mögen kurze Zeit als große Unternehmer auftreten, aber das bricht irgendwann zusammen. Das habe ich schon mehrfach aus eigener Anschauung erlebt.
Ich bin zwar kein Akademiker, aber ich war in der Universität des Lebens, und dort lernt man durch Schlüsselerlebnisse. Die Begegnung mit Hellmuth J. ten Siethoff war ein solches Schlüsselerlebnis.
Ich bekam plötzlich eine klare Perspektive, sozusagen eine Zielorientierung. Indem ich mich mit Anthroposophie beschäftigte – aber vielleicht wäre es auch auf andere Weise möglich gewesen –, lernte ich, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Es gibt immer tausend Fragen, die sich stellen. Worauf kommt es an? Worauf kommt es mir an? Was braucht der andere? Was ist für das System wichtig? Was ist für den anderen Menschen wichtig?
In der Zeitung habe ich später oft gelesen, dass bei dm alles anthroposophisch sei. Mancher Bewerber stellte dann die Frage, ob man Anthroposoph sein müsse, um bei dm arbeiten zu dürfen. Nein, muss man nicht. Mein Denken auf die Anthroposophie zu reduzieren, ist plakativ und wird der Sache nicht gerecht. Mich hat die Anthroposophie nicht vereinnahmt; sie hat mich befeuert. Dasselbe gilt für dm. Ich habe angefangen, das Unternehmen mit Hilfe der Anthroposophie zu reflektieren, nicht mehr, nicht weniger.
Die Anthroposophie ist keine Religion, die Glaubenssätze vorgibt. Mit den Erkenntnissen der Anthroposophie kann man sich die Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung von Menschen und Gemeinschaften erarbeiten. Doch wie man diese Erkenntnisse umsetzt, dazu gibt die Anthroposophie keine Hinweise. Dafür braucht es Geistesgegenwart und Intuition.
Die Anthroposophie wurde für mich als Unternehmer das, was dem Architekt die Statik ist. Ein Architekt hat das Ziel, kühne und materialsparende Gebäude zu bauen. Deswegen ist es vernünftig, dass sich der Architekt in den Gesetzmäßigkeiten der Statik kundig macht. Genauso beschäftige ich mich als Unternehmensverantwortlicher mit Anthroposophie. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich dann als Unternehmer etwas Nachhaltiges, Tragfähiges hervorbringe, ist größer, als hätte ich davon null Ahnung.
Verurteilt zum Suboptimalen
Dieses Nachdenken, diese Metamorphose, diese Art und Weise, in die Welt zu schauen, das alles hat dazu geführt, dass das ganze Unternehmen bewusster wurde. Alle Aufgaben und Arbeiten im Unternehmen wurden transparenter und plötzlich auch vermittelbar. Bis dahin hatte ich keine formulierten Ziele und entschied alles entweder aus dem Bauch heraus oder auf der Grundlage von Evidenzerlebnissen. Wie soll man das jemand anderem erklären? Das ist vielleicht originell, aber es lässt sich nicht kultivieren. Wenn man aber etwas kultivieren will – Stichwort »Unternehmenskultur« –, dann muss klar sein, worauf es ankommt.
Deswegen waren die Fragen, die Hellmuth J. ten Siethoff mir gestellt hatte, für dm ein wesentlicher Impuls. Ich konnte jetzt vor meine Mitarbeiter treten und sagen: »Wozu gibt es dm? Um Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass sich die Menschen entwickeln können. Wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich Reifenhändler gelernt hätte, dann würden wir jetzt Reifen verkaufen. Nun habe ich eben Drogist gelernt, deswegen verkaufen wir jetzt Zahnpasta. Aber die Grundidee dieses Unternehmens ist, dass man sich als Mensch entwickeln kann.«
Ich zitiere in diesem Zusammenhang auch gern aus Goethes Faust: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.« Denn es gibt nichts, was wir nicht besser machen können. Der Mensch ist verurteilt zum Suboptimalen. Aber wir können uns beharrlich bemühen, die Dinge besser zu machen. Wie schaffen wir Rahmenbedingungen, damit die Menschen sich entwickeln können?
Hellmuth J. ten Siethoff wurde wichtigster Ratgeber von dm. Wir haben in den folgenden Jahren viele Seminare mit ihm durchgeführt, in denen es um die Entwicklung unserer Organisation ging. Mit seiner Unterstützung entstand auch die dm-Philosophie.
1982 kam die gesamte deutsche und österreichische Geschäftsführung, rund 30
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