Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)
haben? Veredeln Genusswaren die Konsumbedürfnisse? Ist es in Ordnung, Alkohol zu verkaufen? Oder Zigaretten? Veredeln wir Bedürfnisse, wenn wir nicht nachhaltige oder nicht fair gehandelte Produkte verkaufen?
Ein Händler muss sehen, dass er sein Geschäftsmodell so realistisch entwickelt, dass es sich einigermaßen mit den Bedürfnissen der Gesellschaft deckt. Je größer die Deckung ist, desto größer ist das Marktpotenzial. Wer in einer Stadt mit 15 000 Einwohnern einen Laden eröffnet, dessen Geschäftsmodell nur ein Prozent der Bevölkerung anspricht, der wird auf die Dauer zu wenig Fleisch am Knochen haben. Mit solchen Geschäftsmodellen kann ich nur in London oder Paris, wo Millionen Menschen leben, einen Laden aufmachen. Hier finden sich vielleicht die tausend Menschen, die sagen: Donnerwetter, so was brauche ich unbedingt. Da muss ich hin!
Der Händler muss die latent vorhandenen Bedürfnisse des Menschen antizipieren können und dann ein Angebot generieren, so dass die latent vorhandenen Bedürfnisse virulent werden. Das wäre das Ideal. Deswegen muss man sich fragen: Was sind die wahren gesellschaftlichen Zielsetzungen? Wo will der Mensch hin?
Ein Vorbild in diesem Denken war mir immer der Unternehmer Karl August Lingner, der 1892 den ersten Markenartikel, Odol-Mundwasser , auf den Markt brachte. Mit seiner Werbung – übrigens künstlerisch bedeutende Plakate – hat er nicht ein Scheinbedürfnis geschaffen, sondern ein latent vorhandenes, aber bislang nicht gestilltes Bedürfnis geweckt. Bis dahin hatte sich kein Mensch an Mundgeruch gestört, nicht Goethe, nicht Schiller, nicht Lessing, nicht Herder. Lingner aber kommt und erkennt, dass Mundgeruch etwas ist, was der Mensch eigentlich nicht will. Er antizipiert das latente Bedürfnis. Und dann bringt er ein Produkt auf den Markt, das nicht nur den Mundgeruch beseitigt, sondern außerdem noch Hygiene schafft und dadurch Krankheiten vorbeugt. Aber wenn dieses Bedürfnis nach frischem Atem nicht latent vorhanden gewesen wäre, dann wäre das kein dauerhafter Erfolg geworden. Indem er das Bedürfnis verstanden hat, konnte er mit seinen Fähigkeiten ein Angebot dagegensetzen.
Lingner interessierte sich für die Menschen und erkannte sehr früh, dass die Bevölkerung zu wenig über die Entstehung und Verbreitung von Erkrankungen wusste. Tuberkulose, Haut- und Geschlechtskrankheiten nahmen deswegen in Großstädten in besorgniserregender Weise zu. Lingner investierte deswegen einen Großteil seines Vermögens in gemeinnützige Arbeit und entwickelte eine Art »hygienische Volksbelehrung«. Die erste Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden 1911 mit über fünf Millionen Besuchern und die Gründung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden 1912 gingen auf seine Initiative zurück. Heute gehören tägliches Zähneputzen und der regelmäßige Zahnarztbesuch ganz selbstverständlich zur europäischen Alltagskultur. Der durchschnittliche Bundesbürger investiert 16,20 Euro pro Jahr für Zahn- und Mundhygiene. Das macht ein Gesamtmarktvolumen von knapp 1,4 Milliarden Euro – ein Markt, den es noch nicht gab, als mein Urgroßvater 1870 seine Drogerie eröffnete.
In dieser Weise muss man dem Trend gerecht werden. Wir müssen permanent mit diesem Entdeckergeist, mit diesem Forschergeist – oder um es mit Steinerschen Worten zu sagen: mit Weltinteresse und mit Menscheninteresse – danach schauen: Wo kann ich Bedürfnisse wahrnehmen?
Um die Bedürfnisse zu veredeln, muss ich erkennen, welcher Art die Bedürfnisse sind, die ich finde: Wer den Menschen nur zum Mittel macht, nicht zum Zweck, wird nicht den Menschen bedienen, sondern den Geldbeutel.
Schiller würde fragen: Wollen wir den Stofftrieb oder den Formtrieb bedienen? Der Stofftrieb ist der sinnliche Trieb, der von der physischen Natur des Menschen ausgeht. Der Formtrieb ist beständig und entspringt dem ideellen Kern des Menschen. Nicht um eine Entscheidung zwischen beiden geht es, sondern um ihre Auf-Hebung und dadurch um eine Höherentwicklung des Menschen. Das vermittelnde, beide durchdringende und qualitativ erhebende Element zwischen den beiden Extremen bezeichnet Schiller als den Spieltrieb: »Der Mensch […] ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Dass hier nicht das kindliche Spielen gemeint ist, ist offenkundig. Schiller denkt dabei vielmehr an eine Tätigkeit des sich noch zu entwickelnden ideal vorgestellten Menschen, eines Menschen, der lernt, zwischen beiden Polen zu vermitteln und mit
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