Wood, Barbara
düsteren Raum, der nur gelegentlich von einem
Blitz schwach erhellt wurde, war nichts dergleichen aufzutreiben. »Kannst du
aufstehen?«
Conroy
rang um Luft. »Hannah ... ich muss dir die
Wahrheit sagen. Weshalb deine Mutter gestorben ist ... das lastet auf meinem
Gewissen ...«
»Sprich
jetzt nicht, Vater.«
»Der
Brief, Hannah, lies den Brief ...«
»Den
Brief?«
Entlang
den Wänden des Raums, der Hannah immer mehr wie ein Grab vorkam, zog sich eine
Ahnengalerie, Porträts von Männern in wattierten Röcken und Frauen in den
Gewändern früherer Epochen. Während sie neben ihrem Vater kauerte, meinte sie
förmlich ihre Blicke auf sich zu spüren, die gierigen Augen neidischer Toter,
die es auf die Lebenskraft ihres Vaters abgesehen hatten. Ihr kriegt ihn
nicht!, hätte sie am liebsten gerufen.
John
Conroys Atem setzte kurz aus, dann blickte er Hannah an, ihr Gesicht, das dem
von Louisa so ähnlich war, die hohe Stirn und
die fein modellierten Wangenknochen, die von schwarzen Wimpern gerahmten, wie
Perlmutt glänzenden grauen Augen. Auch Hannahs Frisur
entsprach der von Louisa: das
schwarzgelockte Haar in der Mitte geteilt und wie die Schwingen von Raben über
die Ohren gelegt, um dann im Nacken von einem seidenen Netz zusammengefasst zu
werden. Mit schwindender Kraft berührte Conroy die Wange der Tochter. »Wie sehr
du doch deiner Mutter gleichst.«
Sein Leben
hatte, wie er immer sagte, an dem Tag begonnen, da Louisa
Reed »wie ein zauberhafter Schmetterling« in sein Leben trat.
Für Hannahs Begriffe war es eine
Liebesgeschichte gewesen, die ihresgleichen suchte. Louisa
Reed, mit ihrer Theatertruppe im Südosten Englands auf Tournee,
hatte sich bei ihrem Auftritt in Bayfield den
Knöchel verstaucht. Da der distinguierte Vorgänger von Miles Willoughby nicht bereit war, eine Schauspielerin zu behandeln, wurde
sie zum Praktischen Arzt im Ort gebracht, einem schüchternen jungen Quäker mit
brandneuem Praxisschild.
Was sich
wohl an jenem schicksalhaften Tag zugetragen hatte, ging es Hannah zuweilen
durch den Kopf, als Louisa mit ihrer
Fröhlichkeit und ihrem Überschwang Einzug in dieses stille, bescheidene
Häuschen hielt? Was hatte die zitronengelb gewandete, hübsche junge Frau mit
dem nachtschwarzen Haar in dem zurückhaltenden, dunkel gekleideten Mann
gesehen? John und Louisa mussten
wie Nacht und Tag gewesen sein - und doch und wie Nacht und Tag hatten sie
einander ergänzt und eine perfekte Einheit gebildet. Hannahs Mutter hatte sich so verliebt, dass sie die Bühne aufgab, um fortan
mit John zusammen zu sein, und er hatte sich derart in sie verliebt, dass er
sich damit abfand, aus der Gemeinschaft der Quäker verstoßen zu werden, um sie
zu heiraten.
Er griff
in seine Arzttasche und zog die kleine Flasche mit der Proberezeptur heraus.
»Wenn ich dieses Wunder vor sechs Jahren vollbracht hätte, hätte ich deine
Mutter retten können.« Er tastete nach Hannahs Hand,
drückte das Fläschchen hinein. »Ich reiche dies weiter an dich, Hannah, als
mein Vermächtnis. Verwende es, wenn du deinem Beruf als Hebamme nachgehst.
Rette Leben.«
»Wir
werden es gemeinsam verwenden«, sagte sie gepresst.
Er bewegte
den Kopf von einer Seite zur anderen. »Meine Zeit in diesem Leben ist
abgelaufen, Tochter. Gott ruft mich. Vorher aber muss ich dir den wahren Grund für den Tod deiner Mutter anvertrauen ...
Ich hätte es schon längst tun sollen ...« Er schluckte angestrengt. »Der Brief
gibt Aufschluss darüber ... ich habe ihn versteckt ... such ihn ...«
»Vater,
ich verstehe nicht. Wovon sprichst du?« Hannah drückte seine erschreckend
kalten Hände. »Ich werde Dr. Willoughby holen ...«
»Nein!«,
stieß er mit letzter Kraft aus. »Meine Zeit ist um, Hannah. Wir müssen uns
damit abfinden.« Er schlug die Augen auf, versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen,
ließ seinen Blick dann durch das Zimmer wandern. Nach einer Weile runzelte er
die Brauen und fragte: »Wer ist das?«
Hannah sah
sich um. »Wer soll was sein, Vater? Da ist niemand.«
»O ja
...«, flüsterte John Conroy. »Jetzt erkenne ich Dich, Herr ...« Seine Miene
hellte sich auf, die Schatten schwanden, und zu Hannahs Verblüffung lächelte der Vater unversehens. »Ja«, sagte er und nickte
dem Phantom zu, das nur er sah. »Ich verstehe ...«
Und gleich
darauf: »O Hannah! Das Licht!« Er schaute sie wieder an, und sie war erstaunt,
dass sein Blick klar und konzentriert war wie seit Jahren nicht mehr. Erneut
griff er nach ihrer Hand, die noch
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