Wood, Barbara
Mutter, zum anderen um einen
Brief, den sie lesen sollte, den sie aber in seinem Nachlass nicht gefunden
hatte.
Nachdem
sie den Vater begraben und das Häuschen verkauft hatte, war Hannah nach London
gefahren, um eine Passage nach Australien zu buchen, wo, wie sie gehört hatte,
die Sonne golden strahlte und sich jedem Möglichkeiten ohne Ende boten. Allerdings
musste sie zur Kenntnis nehmen, dass kein Kapitän bereit war, eine junge,
unverheiratete Dame ohne Begleitung an Bord zu nehmen. »Sie würden Offizieren
und Mannschaft nur den Kopf verdrehen«, hatte einer erklärt. »Ich möchte nicht
riskieren, die Moral meiner Leute zu untergraben.« Da sich Hannah nicht leisten
konnte, eine Gesellschaftsdame in ihre Dienste zu nehmen, stand zu befürchten,
sie würde Britannien nicht verlassen können. Glücklicherweise jedoch machte der
Agent, bei dem sie wegen ihrer Passage vorstellig geworden war, ein
Missionarsehepaar ausfindig, das nach Perth wollte. Er
schickte einen Brief an das Gasthaus, in dem die Eheleute abgestiegen waren,
mit dem er anfragte, ob sie etwas dagegen hätten, für die Dauer der Reise eine
junge Dame unter ihre Fittiche zu nehmen. Man arrangierte ein Treffen, nach dem
die Merriwethers Hannah, auch wenn sie nicht viel Geld hatte, für charakterlich
einwandfrei befanden und sich erboten, über ihr Wohlergehen an Bord zu wachen.
Jetzt
allerdings, da sie bereits wochenlang auf hoher See unterwegs waren und als
drei der vier zahlenden Passagiere im geschmackvollen Salon der Caprica saßen, wo sie versuchten, sich auf ihr Mittagessen,
bestehend aus Tafelspitz und Kartoffeln, zu konzentrieren, lag Abigail Merriwether ihr eigenes Wohlergehen mehr am Herzen als das von Miss
Conroy. Sie hatte ihrem Mann nichts von den Befürchtungen mitgeteilt, die sie
zunehmend hegte, weil er ihr dies als mangelndes Gottvertrauen ankreiden würde.
Jeder Tag, der sie Australien näher brachte, schürte ihre Ängste. Worauf hatten
sie sich da bloß eingelassen? Sie waren eindeutig zu alt für ein derart beschwerliches
Unternehmen. Caleb hatte
seine besten Jahre längst hinter sich, auch wenn er sich einbildete, noch jung
und kräftig zu sein. Umkommen werden wir in dieser Wildnis, ging es Abigail durch den Kopf, während sie etwas verkrampft ihren Tischnachbarn zulächelte.
Und jetzt droht auch noch diese schreckliche Gefahr, dass wir uns alle anstecken.
Der
Bordeaux funkelte wie Rubin in Kristallgläsern. Porzellan und Tischsilber
blitzten auf, reflektierten das Licht der blank polierten Messingleuchter, die
von der Decke herabhingen und sich den rollenden Bewegungen der Caprica anpassten. In dem kleinen Salon fand man sich nicht nur zu
den Mahlzeiten ein. Ein kleiner runder Eichentisch, auf dessen Oberfläche
Vertiefungen zum Abstellen von Trinkgläsern angebracht waren, lud dazu ein,
Karten und Backgammon zu
spielen. Die Trennwände schmückten Lithographien von Segelschiffen und
Aquarelle von hübschen Landschaften, der Fußboden war mit erlesenem türkischen
Teppich ausgelegt. Ein gediegenes Ambiente für diejenigen, die es sich leisten
konnten.
Die drei
Passagiere waren allerdings zu nervös, um sich das Essen munden zu lassen.
Jegliche Konversation war verstummt, man lauschte dem Knarren und Ächzen des
Schiffs.
Seit
Madeira, wo sie einen kurzen Zwischenaufenthalt eingelegt hatten, waren der Caprica Himmel und Meer gewogen gewesen. Sie »segelte vor dem
Wind«, wie Kapitän Llewellyn es nannte,
kam deshalb zügig voran und sollte also wie versprochen innerhalb von vier
Monaten ihren Zielhafen erreichen. Bislang war die Reise durchaus angenehm
verlaufen, die Tage hatten einander abgelöst, während das Schiff unbeirrt
seinem Kurs folgte, Segel knatterten und sich bauschten, Matrosen in Rahen und
Takelage kletterten oder Reparaturen durchführten, die Decks schrubbten und
abends auf der Ziehharmonika spielten. Die vier Passagiere mit eigenen Kabinen
verbrachten ihre Zeit mit Lesen, mit Schach oder beim Kartenspiel oder
schrieben Tagebuch, um den Verlauf ihrer so angenehmen Reise festzuhalten.
Bis Dr.
Applewhite hatte verlauten lassen, dass unerwartet ein Auswanderer
verstorben war. Tags darauf waren bereits mehrere von einer
höchstwahrscheinlich ansteckenden Krankheit betroffen, und mittlerweile ging
im gesamten Schiff die Angst um. Seit Tagen vernahm man vom Salon aus weder
Dudelsack noch Fidel vom Hauptdeck, wo sich die Auswanderer tagsüber
aufhielten. Und auch wenn es auf jeder langen Reise zu Erkrankungen
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