Wood, Barbara
schaute sich nochmals nach dem Zelt
um, in dem Ralph Gilchrist lag. Er
hatte nicht mehr lange zu leben, und das hing keineswegs mit dem Einbruch des
Stollens zusammen.
Hannah
hielt das Gesicht in den kühlen Wind. Die Luft an diesem Abend war irgendwie
anders. Kündigte sich Regen an? Aber keine Wolke verdeckte die hellen, kalten
Sterne.
Sie
blickte zu Jamie O'Brien,
der am Lagerfeuer saß. Er hatte ein frisches Hemd angezogen, eins, das auf
einer Leine gehangen hatte, damit Wind und Sand es reinigten. Darüber trug er
wie immer die schwarze Lederweste mit den Silberknöpfen. Und wenn er schon
infolge der Wasserkontingentierung aufs Rasieren verzichtete, achtete er
zumindest darauf, dass sein dunkelblonder Bart gestutzt war und ihm das Haar
nicht über den Kragen wuchs.
Sie
schaute zu den anderen Männern, deren Gesichter vom Feuer erhellt waren und die
aßen und lachten und sich unterhielten. Welch eine zusammengeschweißte
Gemeinschaft sie doch bildeten, überlegte sie. Eine Kameradschaft, wie sie sich
vor allem im Outback entwickelte, wo stets Gefahren drohten, so dass oft das
Einzige zwischen einem Mann und dem sicheren Tod der Freund an seiner Seite
war.
Dementsprechend
oblag es Mr. O'Brien, diesen Männern zu verdeutlichen, dass es um Leben oder
Tod ging, und sie zu überreden, die Opalfelder zu verlassen. Wenn Hannah ihn
zum Aufbruch bewegen konnte, würden die anderen ebenfalls ihre Zelte
abbrechen. Dessen war sie sich sicher.
Jamie gab gerade eine seiner Schnurren zum Besten, blickte dabei aber
hinüber zu Hannah, die vor dem Zelt stand, das sich Ralph Gilchrist mit Tabby und Bluey
Brown teilte. Sie wirkte niedergeschlagen. War mit Church alles in Ordnung? Wie
begehrenswert Hannah aussah, durchzuckte es Jamie, unversehens von sinnlichen Gefühlen übermannt. Obwohl es um ihr Kleid
nicht mehr zum Besten stand und ihr Haar ungebändigt über die Schultern hing,
war sie nach wie vor jeder Zoll eine Dame.
Hannah
Conroy beschäftigte seine Gedanken Tag und Nacht. Er träumte von ihr. Wenn er
in seiner Mine schuftete, am Sandstein herumkratzte, überlegte er, wie es wohl
wäre, wenn er sie im Arm hielte, wenn er sie küsste. Wo er sich doch nach
Jahren der Schürzenjägerei und amourösen Eroberungen für gefeit gegen die Liebe
hielt. Nicht einmal auf Tuchfühlung war er mit ihr gekommen.
Bis jetzt.
Jetzt
wusste er, was es mit den Liedern und Gedichten auf sich hatte, in denen es um
Liebe und romantische Schwärmerei und ewige Treue ging. Bislang waren das für
ihn wirklichkeitsfremde Ergüsse liebeskranker Jungspunde gewesen. Jetzt
wünschte er sich, über die Gabe der Poesie und Lyrik zu verfügen, denn nur zu
denken »Ich liebe diese Frau« kam ihm für das, was er empfand, unangemessen
vor, unzureichend.
»Immer
erzählst du die Geschichte falsch, Jamie«, zog Charlie Olde ihn auf. »Ich meine
die Geschichte von dem Hund, der auf der Proviantkiste saß. So wie ich sie
gehört habe, hieß es da nicht saß.«
Die
anderen lachten, während Jamie brummte: »Halt deine Zunge im Zaum.« Als
unversehens Hannah ans Feuer trat, wurde Charlie puterrot und entschuldigte
sich. Aber Hannah war keineswegs gekränkt. Jamie O'Briens Geschichten faszinierten sie.
Auch wenn
er noch so amüsant zu erzählen verstand, wusste er außer über Australien und
über das, was er selbst erlebt hatte, kaum Bescheid. Er war viel auf diesem
Kontinent herumgekommen und hatte eine Menge gesehen, aber wenn Hannah zum
Beispiel Keats oder Byron erwähnte, konnte Jamie damit nichts anfangen. Er war
nicht bewandert in Geschichte oder in den Naturwissenschaften, und seine
geographischen Kenntnisse außerhalb von Australien waren dürftig. »In England
war ich noch nicht. Soll ja viel regnen dort.« Jamie O'Briens Stärken waren seine rasche Auffassungsgabe, seine Geschicklichkeit,
anderen eins auszuwischen und den Gesetzeshütern immer eine Naslang voraus zu
sein.
Unwillkürlich
verglich Hannah ihn mit Neal, was, wie sie wusste, eigentlich unangebracht
war. Trotzdem. Neal war belesen und gebildet, ein der Forschung ergebener
Gentleman und darauf aus, Geheimnisse zu ergründen. Er war ein ehrenwerter und
integrer Mann, mit dem sie sich einmal vorgestellt hatte, den Rest ihres Lebens
zu verbringen.
Wie war es
möglich, sich zur selben Zeit zu zwei Männern hingezogen zu fühlen, noch dazu
zu zwei derart unterschiedlichen?
Vielleicht
war das möglich, wenn die Beweggründe ebenfalls unterschiedlich waren. Ihre
Liebe zu Neal war tief und
Weitere Kostenlose Bücher