Wood, Barbara
sicherlich mitbekommen hatten, zu beruhigen.
Hannah
eilte durch den noch eingerüsteten Kinderflügel. Da die Wände erst kürzlich
hochgezogen worden waren, roch es in dieser Abteilung, die einem langen
Schlafsaal ähnelte, nach Sägespänen und frischem Kiefernholz. Sie griff sich
ihre lederne Arzttasche, begab sich damit in Dr. Iversons Sprechzimmer, wo
Alice inzwischen beschwichtigend auf Mrs. Soames
einsprach, die aus dem Hinterzimmer aufgetaucht war und wissen wollte, was
vorgefallen war. »Nicht weiter tragisch«, meinte Alice, »nur eine zerbrochene
Scheibe. Schauen wir mal nach, wie es Ihrem Mann geht, ja?«
Hannah
drehte das Licht auf dem Schreibtisch hoch und nahm sich klopfenden Herzens das
Portefeuille ihres Vaters vor. Verborgenes Wissen ganz nah, sagte sie sich
vor, als sie die Schnur löste und den oberen Einbanddeckel beiseitelegte.
Etwas, das den heiligen Grund heilt ...
War es der
Brief?
Bevor sie
England verließ, hatte sie das Haus von oben bis unten durchsucht, aber nichts
gefunden. Demnach, so ihre Vermutung, befand sich der Brief in dem
Portefeuille, bei den wichtigen ärztlichen Aufzeichnungen. Aber auch diese
Notizen hatte sie inzwischen Stück für Stück durchgesehen, ohne auf etwas zu
stoßen, das einem Brief ähnelte.
Verborgen ...
Sie
richtete ihr Augenmerk auf die beiden losen Einbanddeckel. Sie waren alt und
abgegriffen und wohl einmal miteinander verbunden gewesen, jeden Zoll des
oberen Deckels untersuchte sie, legte ihn, da sie nichts entdecken konnte,
wieder beiseite. Der hintere Deckel war noch ramponierter, typisch für ihren
Vater, der jeden Shilling dreimal umgedreht hatte. Dann fiel Hannah auf, dass
die auf der Innenseite aufgeklebte Schutzschicht unten vorsichtig
aufgeschnitten und dann offenbar etwas dazwischengeschoben worden war.
Mit
wachsender Erregung angelte sie mit Hilfe des Brieföffners auf Sir Marcus'
Schreibtisch etwas heraus, was sich als ein Umschlag entpuppte, auf dem als
Absender Wiener Allgemeines Krankenhaus angegeben
war.
Hannah
fühlte sich zurückversetzt zu dem Tag, an dem, vier Jahre nach dem Tod der
Mutter, ein Umschlag mit einer ausländischen Briefmarke angekommen war. Ihr
Vater hatte sich in seinem Labor aufgehalten, um das neue Mikroskop, das er
sich zugelegt hatte, zusammenzubauen. Hannah, damals siebzehn, hatte, als der
Postmann an die Tür klopfte, gerade Rosinenbrötchen aus dem Backofen geholt.
Der Vater hatte sich mit dem Brief wieder in sein Labor verzogen, und als er es
nach einer Weile sichtlich betroffen verließ, gesagt, er müsse zum Friedhof. Da
er nach mehreren Stunden noch immer nicht zurück war, hatte sich Hannah auf
die Suche nach ihm gemacht und ihn schließlich, über Louisas Grab zusammengesunken, entdeckt, den Brief aus Wien in der Hand und
bitterlich schluchzend.
Danach
hatte Hannah den Brief nie mehr gesehen, und ihr Vater hatte nie ein Wort
darüber verloren, aber in den folgenden beiden Jahren war sein Bestreben, die
Rezeptur zu perfektionieren, zur Besessenheit geworden. Was immer in dem Brief
stand, hatte seinen Forscherdrang derart angestachelt, dass er Chemikalien an
sich selbst ausprobierte, letztendlich zum Nachteil für seine eigene
Gesundheit.
Es musste
dieser Brief sein, von dem ihr sterbender Vater gesprochen hatte, der Brief,
der die »Wahrheit« über den Tod der Mutter offenbarte. Nur war er leider auf
Deutsch abgefasst.
Ich werde
ihn sofort übersetzen lassen, beschloss Hannah und faltete das Blatt wieder
zusammen. Als sie es zurück in den Umschlag schieben wollte, entdeckte sie
dort ein zweites Blatt Papier. Sie faltete es auseinander; es schien ein
zweiter Brief zu sein, in englischer Sprache. Ein Vergleich der beiden
Schreiben miteinander ergab, dass das zweite mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
die englische Übersetzung des ersten war.
Ein
Stoßgebet zum Himmel schickend, dass sich hier die Lösung für die angespannte
Situation im und vor dem Hospital abzeichnete, las Hannah mit angehaltenem
Atem und bemüht, ihre Hände ruhig zu halten und damit das Flattern des Papiers
zu vermeiden, den Brief, der einst ihren Vater so bedrückt hatte.
»Großer
Gott«, stieß sie aus, als sie zum Ende kam.
Papunya
hatte recht! Die Antwort war immer hier gewesen!
Sie rannte
durch die Halle. Kaum tauchte sie vor der Eingangstür auf, wurde sie nicht nur
mit Fragen bestürmt, sondern auch von den verzweifelten wie erzürnten Menschen
umringt und eingekeilt.
»Können Sie
meine Schwester
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