Wood, Barbara
dass
das Mädchen, das sie um die Zwanzig herum schätzte, panische Angst hatte und um
ihre eigene Sicherheit besorgter war als um die dieser mysteriösen Miss Magenta. Sie versuchte, Alice nicht anzustarren, aber neugierig, wie sie war,
entging ihr nicht, dass die linke Wange von Alice Narben zeigte und die linke
Augenbraue gar nicht mehr vorhanden war. Soweit Hannah unter dem
Dienstmädchen-Häubchen und den blonden Locken erkennen konnte, schienen Alice
auch das linke Ohr und ein Gutteil behaarter Kopfhaut zu fehlen. Eine Tragödie
fürwahr, denn als Alice den Kopf wandte und aus dem Fenster schaute, sah Hannah
das rechte, sehr hübsche Profil des Mädchens. Wie war es zu dieser so
schrecklichen Entstellung gekommen?
»Da wären
wir, Miss!«, sagte Alice, als die Kutsche die Fahrt verlangsamte und ein
elegantes Haus ins Blickfeld kam.
Zwei
Stockwerke hoch, mit Veranden und Balkonen, kunstvollen Gittern und schön
anzusehenden Säulen, thronte das Haus von Alices augenscheinlich wohlhabender
Herrschaft inmitten von Wiesen und Gärten am Ende einer langen Zufahrt, die von
der Hauptstraße abzweigte. Die schmiedeeisernen Ornamente waren vielleicht eine
Spur zu ausladend, die Veranden und Balkone mit zu vielen Pflanzen bestückt,
und die vielen Wetterfahnen auf dem Dach erweckten den Anschein, als wollte der
Besitzer unterstreichen, dass er es zu etwas gebracht hatte. Als einzige
Nachbarschaft, jedoch gut eine Meile entfernt, sah man einen Schafpferch und
noch weiter hinten Gebäude, die ein Milchfarmbetrieb sein mochten; das
elegante Herrenhaus stand somit für sich allein zwischen Eukalyptus- und
Pfefferbäumen in einer unberührten, von kleinen Bächen durchzogenen
Landschaft, die in flachen Hügeln auslief.
Eine
fürwahr ausgefallene Lage für eine derart pompöse Residenz, vor allem weil
keinerlei Nebengebäude auszumachen waren, keine Getreidefelder, kein Vieh. Nur
dieses große prächtige Haus mitten im Niemandsland.
Als der
Kutscher Hannah beim Aussteigen half, hörte sie Musik und lautes Lachen aus
den geöffneten Fenstern dringen, und jetzt, da die Sonne hinter den Bäumen
verschwunden war, sah sie, wie in allen Zimmern Licht brannte. Die an der
Schmalseite des Hauses angebundenen Pferde, die Kutschen und sonstige Gefährte
verrieten ihr, dass da ein großes Fest im Gange sein musste.
Alice
führte Hannah zum Hintereingang und von dort aus in eine hell erleuchtete,
lärmerfüllte Küche, in der brodelnde Töpfe eine fast unerträgliche Hitze
verbreiteten. »Hier lang«, wies Alice, ohne die neugierig gaffenden Köchinnen
und Dienstboten zu beachten, Hannah den Weg über eine Hintertreppe hinauf in
ein Zimmer, in dem mehrere Damen wie aufgescheuchte Hühner herumflatterten.
Sie waren allesamt jung, zwei von ihnen in Negliges und Frisierumhänge gehüllt,
die Dritte in knielangen Unterhosen und einer Untertaille aus durchbrochener
weißer Baumwolle. Alle drei trugen ihr schulterlanges Haar offen, so als wären
sie eben von einem Nachmittagsschläfchen erwacht. Als Alice damit herausrückte,
dass Dr. Young nicht kommen würde, murrten die
jungen Damen, Miss Forchette werde bestimmt sehr ungehalten darüber sein,
geleiteten Hannah aber in ein Schlafzimmer, in dem jede Menge Kleider und
Schuhe verstreut herumlagen. Auf einer Frisiertoilette türmten sich Geschmeide
und Schminkutensilien, und auf einem Bett mit einer tiefroten Tagesdecke lag,
in einem mit Spitze durchwirkten Nachtgewand, eine leichenblasse und völlig
erstarrte weitere junge Dame.
Hannah
trat an das Bett und griff nach dem Handgelenk der jungen Frau. Als von unten
Klaviermusik, gefolgt von sonorem, typisch männlichem Lachen, an ihr Ohr drang,
wurde ihr klar, dass dies hier kein gewöhnliches Haus war. Obwohl sie noch nie
in einem derartigen Etablissement gewesen war, niemals ihren Vater zu einem
gewissen Haus etwas außerhalb von Bayfield begleitet
hatte, dessen Bewohnerinnen für ihre Gastfreundlichkeit bekannt waren, zweifelte
sie nicht daran, um was für ein Haus sich dieses hier handelte.
»Wie ist
es dazu gekommen?«, fragte sie, während sie den Hals des Mädchens nach einem
Pulsschlag abtastete und ihn dann als erschreckend schwach und unregelmäßig
befand.
»Sie
klagte über Kopfschmerzen«, sagte eines der Mädchen. »Und über Übelkeit.«
Hannah hob Magentas Lider und sah geweitete Pupillen.
»Und sie
war sehr durstig, konnte aber kein Wasser trinken«, ergänzte eine andere.
Demnach
war Magentas Mund ausgetrocknet, und das
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