Wood, Barbara
Angst vor Feuer wurde
Alice jedes Mal nach kürzester Zeit entlassen. Irgendwann dann war sie alt
genug, um nach Meinung der Behörden nicht länger unter deren Zuständigkeit zu
fallen, und so landete sie auf der Straße. Dort habe ich sie aufgegabelt, das
arme zerlumpte Ding, unten am Hafen, als Bettlerin.
Ist eben
meine Art, meinen Wohlstand mit denen zu teilen, die in Not sind. Hin und
wieder fahre ich mit der Kutsche in die Stadt und schaue mich in den Straßen
nach Mädchen in aussichtsloser Situation um. Ich nehme sie mit nach Hause,
päpple sie hoch und gliedere sie in meine Familie ein.« Der mit Ketten behängte
schwere weiße Busen hob und senkte sich zu Lulus dramatischem Seufzer. »Hab nun
mal ein weiches Herz. Meine Mädchen wissen das zu schätzen, wenn auch nicht
alle. Ist eben nicht immer einfach, wohltätig zu sein. Möchten Sie nicht zum
Abendessen bleiben? Meine Küche versteht sich darauf, das schmackhafteste
Roastbeef und den besten Yorkshire Pudding
zuzubereiten.«
»Nein
danke, ich muss zurück in
die Stadt.«
Lulu griff
nach der Klingelschnur und zog hastig zweimal daran. Gleich darauf erschien
eine rothaarige Frau, die Miss Forchette verblüffend ähnlich sah. »Rita,
begleite Miss Conroy zur Kutsche zurück. Und gib ihr eine Pfundnote für ihr
Kommen.« Zu Hannah sagte sie: »Ich würde Sie ja gern selbst begleiten, aber
mein Knöchel ...«
Hannah
bemerkte den Krückstock, der am Sessel lehnte, einen edlen Mahagonistock mit
seltsam geformtem Goldknauf. Nicht gerade ein Stock, den man sich bei einer
zeitweiligen Behinderung zulegte. Konnte es nicht auch Lulus Körpergewicht
sein, das ihre Fortbewegung beeinträchtigte?
Rita
führte sie durch das Haus in die große Küche, wo an Herden und Öfen emsig
gekocht und gebacken wurde. Auf dem Weg zum Hinterausgang kamen sie an einem
begehbaren Wäscheschrank vorbei, in dem jemand die wohlbekannte »Ballade von
Barbara Allen« sang, mit einer so schönen Stimme, dass es Hannah heiß und kalt
überlief.
Sie
schaute in den Verschlag und entdeckte dort Alice, die damit beschäftigt war,
Kissenbezüge und Laken aus den Regalen zu holen. Kaum merkte das Dienstmädchen,
dass sie nicht allein war, fuhr sie herum, und ihr Lied erstarb.
»Ich habe
noch nie eine so schöne Stimme gehört«, sagte Hannah.
»Danke,
Miss.« Alice war derart verlegen, dass ihr das Blut in die Wangen schoss und
sie sich mit einer Hand ihre linke Gesichtshälfte abdeckte. Offenbar sang sie
nur, wenn niemand in der Nähe war.
Rita war
vorausgegangen und erwartete Hannah in der lauen Abendluft. Die ersten Sterne
tauchten am dunklen Himmel auf. »Sie brauchen nur diesem Weg zu folgen«, sagte
Rita und lächelte charmant. »Die Kutsche wartet bereits vorn an der Auffahrt.«
Blumenduft
hüllte sie ein, das Zirpen der Grillen und das Quaken der Frösche erfüllte die
Luft. Februar, dachte Hannah und machte sich auf den Weg. Ostern stand vor der
Tür, das war dann mitten im australischen Herbst.
Aber noch
verwirrender als die auf den Kopf gestellten Jahreszeiten empfand sie den
Besuch in diesem unglaublichen Haus. Sie dachte an Lulu und Rita und Magenta und all die anderen Mädchen da drinnen, an die vornehmen Herren und
die erleuchteten Fenster. Was in jenen Zimmern vor sich ging, konnte sie sich
nicht vorstellen. Und was hatte Lulu mit »Unfällen« gemeint?
Um sich
abzulenken, richtete sie ihre Gedanken auf ihren ersten Arbeitstag morgen bei Dr.
Davenport, und in ihrer Vorfreude darauf bemerkte sie nicht die
seltsame dunkle Gestalt, die plötzlich vor ihr auftauchte. Erst durch das
Knurren wurde sie auf sie aufmerksam.
Sie blieb
abrupt stehen. Wie sie im Mondlicht, das jetzt auf das Tier fiel, erkennen
konnte, besaß der Hund - oder war es ein Fuchs? - ein zotteliges orangefarbenes
Fell, eine lange Schnauze und spitz aufgestellte Ohren. Die deutlich
hervortretenden Rippen zeugten davon, dass das Tier hungrig war.
Wie
versteinert stand Hannah da, als das knurrende Biest zu hecheln anfing und die
Zähne fletschte. Sie zwang sich, einen Schritt zurückzuweichen, worauf der Hund
sich vorsichtig einen Schritt näher an sie heranpirschte. Wieder wich Hannah
einen Schritt zurück, wieder kam der Hund einen Schritt näher auf sie zu. Sie
hoffte, es zurück bis zur Küche zu schaffen, dort würden das Licht und der Lärm
das Tier bestimmt in die Flucht jagen. Aber beim nächsten Schritt rückwärts
stieß sie an einen Baum, konnte nicht weiter, während sich der Hund noch
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