Wood, Barbara
passieren würde, wenn
sie Hannah Conroy nicht holten. Wenn das arme Mädchen starb, wäre das eine
schwere Last auf Idas Gewissen, glaubte sie doch fest daran, dass Gott Sünder
bestrafte. Hannah Conroy ohne Miss Forchettes Wissen herbeizuholen mochte zwar
eine heftige Standpauke, vielleicht sogar unangenehme Konsequenzen nach sich
ziehen, war aber immer noch der ewigen Verdammnis vorzuziehen. »Ich geh jetzt
rein und hol sie.«
»Meinetwegen«,
sagte Walt, Lulu Forchettes Kutscher und Handlanger für alles, und wäre in
diesem Augenblick lieber sonstwo gewesen als hier vor dem Postamt in Adelaide,
wo er eine nette junge Dame in eine abscheuliche und möglicherweise gefährliche
Situation bringen musste.
Das Hauptpostamt
war ein großes Backsteingebäude, den Eingang flankierten griechische Säulen
sowie verschiedene Briefkästen mit der Aufschrift ADELAIDE oder MELBOURNE oder
SYDNEY oder WELT. In der Schalterhalle herrschte Hochbetrieb: Briefe wurden zum
Versand eingeliefert, Post wurde abgeholt, an Stehpulten, die mit Tintenfässern
bestückt waren, wurde eifrig geschrieben. Vor einem langen Schalter, hinter dem
Postbeamte saßen, hatten sich Schlangen gebildet, weiter hinten befand sich die
Abteilung, in der Briefe, Zeitungen und Päckchen sortiert wurden.
Hannah
wartete geduldig in der Schlange. Eigentlich rechnete sie nicht mit einem Brief
von Neal Scott. Die HMS Borealis war zu
einer einjährigen Erkundungsfahrt in See gestochen, und es war nicht damit zu
rechnen, dass sie einen Hafen anlief, in dem es ein Postamt gab. Trotzdem
hoffte Hannah, irgendwann einen weiteren Brief zu dem hinzufügen zu können, den
sie im November, also vor sieben Monaten erhalten hatte. Sie hatte Neal längst
geantwortet, hatte ihm von Dr. Davenport berichtet
und wie gern sie bei ihm arbeitete. Sie hätte gern häufiger geschrieben,
eigentlich jeden Tag, weil sie sich dadurch Neal näher und mit ihm verbunden
fühlte, aber sie wollte nicht, dass er bei seiner Rückkehr nach Perth einen
geradezu aufdringlichen Berg Briefe vorfand.
Wenn sie
ihm heute, an diesem bewölkten Herbsttag im Mai schriebe, könnte sie ihm von
ihren arbeitsintensiven Vormittagen in der Arztpraxis erzählen, davon dass Dr.
Davenport sie mehr und mehr mit einbezog, sie Verbände anlegen und
Salben auftragen ließ, wie viel sie von ihm lernte und wie nett sie ihn fand,
schon weil er sie an ihren Vater erinnerte. Dr.
Davenport gab sich seinen Patienten gegenüber verständnisvoll und
höflich und nahm sich für sie Zeit. Und seine Behandlungsmethoden waren
fortschrittlich. Er wechselte tagtäglich die Kleidung und wusch sich sogar die
Hände. Hannah hatte ihm bei drei Entbindungen assistiert, und er hatte
versprochen, dass sie die nächste, sofern sich keine Komplikationen
abzeichneten, ganz allein durchführen dürfe.
In ihrem
Brief, den sie in Gedanken verfasste, könnte sie Neal auch berichten, dass sie
vor zwei Wochen, am Todestag ihres Vaters und damit am Jahrestag ihres
Entschlusses, England zu verlassen, im Park gewesen war. Auf einer Bank unter
einem Pfefferbaum hatte sie zum ersten Mal wieder die Laboraufzeichnungen ihres
Vaters durchgesehen und einmal mehr an seine letzten Worte gedacht. Er hatte
von einem Brief gesprochen. Aber zwischen seinen Aufzeichnungen war nichts
dergleichen zu finden, und mit den unzähligen Zetteln, Notizen, Rezepten,
Gleichungen, Formeln und Einträgen auf Griechisch und Latein wusste sie nichts
anzufangen. Vielleicht war das Geheimnis des väterlichen Portefeuilles erst
zu ergründen, wenn sie ihre Kenntnisse, nicht zuletzt durch die Bücher aus Dr.
Davenports beeindruckender Fachbibliothek, erweitert hatte. Und
dazulernen wollte Hannah unbedingt, auch wenn viele dieser Bücher mühsam zu
lesen waren.
Was sie
Neal in ihrem imaginären Brief nicht mitzuteilen
gedachte, war, dass sie von einer gewissen Madame, die außerhalb der Stadt
residierte, engagiert worden war. Schließlich war es ungewöhnlich, sich um die
gesundheitlichen Belange in einem Bordell zu kümmern. Mittlerweile war Hannah
bei verschiedenen Zwischenfällen zu Lulu gerufen worden: Bei einem Streit zwischen
zwei Mädchen hatte die eine der anderen mit einer Hutnadel ins Auge gestochen;
der gesamte Haushalt war von Diarrhö heimgesucht worden, wogegen Hannah Ingwer
und Steinsalz verschrieben hatte; eine hatte sich den Knöchel verstaucht, in
der Küche hatte sich jemand verbrüht; ein männlicher Besucher hatte sich bei
einer Kraftsportnummer mit Ready Rita
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