Wood, Barbara
fünfundsechzigjährige Miles Willoughby
war 1781 als Sohn eines Adligen zur Welt gekommen, und weil er als Jüngster von
vier Brüdern weder einen Erbanspruch auf einen Titel noch auf Ländereien
geltend machen konnte, hatte er beschlossen, sich als Arzt der gehobenen
Gesellschaft einen Namen zu machen. Er hatte an der Universität von Oxford
studiert, hatte dort Vorlesungen für Griechisch, Latein, Naturwissenschaften,
Anatomie und Botanik absolviert und sich die Kunst des Aderlassens und des
Setzens von Blutegeln angeeignet, den seinerzeit gängigen Behandlungsmethoden.
Während
das Blut unablässig aus dem Arm Ihrer Ladyschaft rann, dachte Willoughby über
diesen unverschämten Quäker nach, der ihm zu verstehen gegeben hatte, dass im
vorliegenden Fall von der seit Menschengedenken angewandten und erfolgreichsten
Behandlungsmethode abzuraten sei. Ihm, Miles Willoughby,
damit zu kommen, ihm, der seinen Beruf schon länger ausübte als dieser
Emporkömmling an Jahren zählte! Was fiel Conroy - einem Landarzt, der niemals
eine Universität besucht, sondern, nicht anders als ein gewöhnlicher Kaufmann,
lediglich eine Lehre absolviert
hatte -, überhaupt ein, einem Gentleman von Arzt
Vorschriften machen zu wollen?
Und dieses
faulig stinkende Gebräu, das die Luft verpestete! Miles Willoughby war überzeugt, der Begriff »antiseptisch« müsse auf einer
europäischen Verschwörung basieren, der die Medizin Tausende von Jahren
zurückwarf. Er hatte bereits von dem Irrsinn, dass sich Ärzte die Hände waschen
sollten, gehört - eine Theorie, die aus Wien stammte, wo man sogar so kühn war
zu behaupten, Ärzte seien Verursacher von
Infektionen!
»So, Eure
Ladyschaft«, sagte er, als der Nachttopf zu gut einem Viertel gefüllt war. »Mal
sehen, wie wir vorankommen.« Obwohl Lady Margaret das Bewusstsein noch nicht
wiedererlangt hatte, sprach Willoughby in der beruhigenden Weise auf sie ein,
die er sich seit Jahren zu eigen gemacht hatte, besonders bei weiblichen
Patienten, die seiner Meinung nach dieses Väterlich-Fürsorgliche brauchten,
weil sie im Grunde wie Kinder waren.
Er hätte
gern ihr Nachthemd hochgeschoben, um nachzusehen, ob die Blutung aus der
Gebärmutter zum Stillstand gekommen war. Aber Untersuchungen im Intimbereich
waren bei Frauen von niederem Stand gestattet, bei einer hochgestellten Dame
wie Margaret Falconbridge dagegen undenkbar, selbst für einen Arzt von Rang und
Namen. Deshalb hielt er es für angebracht, noch ein wenig mehr Blut aus dem Arm
abzuzapfen.
Mrs.
Keen begleitete die Conroys nach unten. Am Fuße der Treppe
hielt John Conroy inne, warf nochmals einen Blick nach oben und sagte dann:
»Wir sollten vielleicht nicht sofort aufbrechen, Hannah. Warten wir lieber noch
ein Weilchen.«
Anstatt in
ein Empfangszimmer oder in einen Salon geführt zu werden, wie das bei einem
Arzt von Stand wie Dr. Willoughby der Fall gewesen wäre, wurden John Conroy und
seine Tochter in die Küche gebracht. Hannah fiel auf, dass ihr Vater erschöpft
wirkte. »Es wäre besser, nach Hause zu fahren, Vater.«
Er
schüttelte den Kopf. »Noch nicht, Tochter. Die arme Frau da oben bereitet mir
Sorgen.« So als wollte er mit seinem Blick Mauerwerk und Gebälk durchdringen
und beobachten, was über ihm vorging, schaute John Conroy zur Küchendecke hoch.
Er bangte um das Leben von Margaret Falconbridge; weil er aber wusste, dass er
sich nicht einmischen konnte, schloss er gleich darauf die Augen, schickte ein
Stoßgebet zum Himmel und bat Gott, die Baronin zu beschützen.
Bereits
als junger Mann war es für John Conroy eine ausgemachte Sache gewesen, dass er
einen Beruf ergreifen wollte, mit dem er sich in den Dienst der Menschheit
stellte, etwa als Anwalt oder Geschäftsmann, um es dann mit der Zeit möglicherweise
zum Leiter einer wohltätigen Einrichtung zu bringen. Leider aber war es Quäkern
verboten, sich an den Universitäten von Cambridge oder Oxford einzuschreiben,
wo man die dafür nötige Ausbildung erhielt. Als der junge Conroy dem damals in Bayfield ansässigen Arzt sein Leid klagte, eröffnete ihm dieser, er hoffe, sich
in ein paar Jahren aufs Altenteil zurückzuziehen, und überlege schon seit
längerem, einen Nachfolger auszubilden. Er bot John an, eine achtjährige
Lehrzeit bei ihm zu absolvieren, nach deren Ablauf er das Diplom medicinae doctor erhalten
würde.
Während
seiner Lehrzeit, in der er mit seinem Lehrherrn Patienten besuchte, Griechisch
und Latein studierte und lernte, wie man eine
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