Wood, Barbara
- entweder waren die Künstler nicht bei der Sache gewesen
oder die Stimmung im Publikum war umgeschlagen oder beides. Nach einhelliger
Meinung hatte Alice jedoch alle anderen Akteure in den Schatten gestellt, und
sein Publikum zufriedenzustellen war genau das, worauf Sam abzielte.
»Ich habe
dir so viel zu verdanken, Hannah«, sagte Alice inmitten all derer, die
angetreten waren, um ihr zu gratulieren. Für das, was sie damit zum Ausdruck
bringen wollte, fand sie nicht, vielmehr noch nicht die richtigen Worte, dazu
musste sie erst einmal den Trubel hinter sich lassen und begreifen, was sich da
ereignet hatte. Sie wusste nur, dass sie mit voller Inbrunst gesungen und das
Mitgehen der Zuschauer gespürt, ihre Gesichter und sogar ihre Tränen gesehen
hatte. Dass sie jetzt kaum ein Wort herausbrachte, lag auch daran, dass sie
von einem Gefühl überwältigt wurde, das eindeutig war und gleichzeitig
umwerfend: Als sie für diese Leute gesungen hatte, war ihr mit einem Mal
klargeworden, dass ihr dieser Weg bestimmt war. Alice hatte zu ihrer Berufung
gefunden.
»Aber
nicht doch«, wehrte Hannah ab, der nicht entging, dass Alice sie auf einmal
nicht mehr mit »Miss« ansprach und sogar duzte.
Sie trat
zurück, um anderen Gelegenheit zu geben, Alice zu gratulieren, und verzog sich
in eine Ecke, hinter eine hohe Topfpalme.
Sie holte
den Gedichtband ihrer Mutter aus ihrer Tasche, in dem sie zwischen Wordsworths Lucy Gray und Ode an eine
Nachtigall von John Keats die Fotografie von Neal Scott aufbewahrte.
Sie schaute auf seine seelenvollen Augen und rief sich seine Stimme ins
Gedächtnis zurück. Die Erinnerung an die romantischen Wochen an Bord der Caprica wurde wieder wach. Die Nacht, in der der Sturm tobte und
sie sich in den Armen lagen und sich mit ebenso viel Angst wie Verlangen
geküsst hatten.
Das Herz
schlug ihr schneller, als sie den Briefumschlag sah, den sie zu der Fotografie
gesteckt hatte. Er war heute Nachmittag mit der Post im Hotel gelandet, gerade
als Hannah, Alice und Mrs. Guinness
in die Stadt aufbrachen. Hannah hatte lediglich einen kurzen Blick auf den
Poststempel - Perth - und die ihr vertraute Handschrift geworfen. Aber was
immer Neal ihr mitzuteilen hatte - unter anderem wohl auch die Bestätigung
ihres Schreibens, mit dem sie ihn von ihrem Umzug aufs Land informiert hatte,
in der Hoffnung, er werde, wenn die HMS Borealis wieder im
Hafen war, vor seiner Abreise nach Adelaide noch seine Post abholen - dieser
Abend gehörte Alice, alles andere konnte bis nach der Vorstellung warten. Sie
wollte sich durch nichts von Alices großem Auftritt ablenken lassen.
Aber jetzt
wurde es Zeit, den Brief zu lesen. Da Neal längst hätte in Adelaide sein
sollen, vermutete sie eine Erklärung, warum sich sein Besuch verzögerte, und
auch ein neues Datum, wann sie mit ihm rechnen konnte.
Mit erregt
zitternden Fingern öffnete sie den Brief.
ADELAIDE
April 1848
15
»Und da
standen wir, ich und Paddy, möge er in
Frieden ruhen, ganz allein dieser Meute von Aborigines gegenüber, die uns anstarrten ...«
Als Liza Guinness den gutaussehenden Fremden aus der warmen Aprilsonne ihr
Hotel betreten und durch die bescheidene Halle auf sie zusteuern sah, verschlug
es ihr die Sprache. Das heißt, sie vergaß, mit wem sie gerade geredet hatte und
worum es da gegangen war. Rasch griff sie sich ins Haar, um sicherzugehen, dass
sich keine Strähne aus ihrem Knoten verselbständigt hatte.
Als Witwe
und Mutter von zwei erwachsenen Töchtern erachtete sich Liza Guinness weiterhin als jung und tat alles, um diesen Eindruck
aufrechtzuerhalten; sie spülte ihr Haar mit Henna, griff zu einer Nachtcreme
für ihr Gesicht und achtete darauf, sich ihre schlanke Figur zu bewahren. Und
obwohl sie seit fünf Jahren das zehn Meilen nördlich von Adelaide gelegene Australia Hotel führte, ließ sie sich auch sonst nicht gehen wie so viele
andere Frauen nach Monaten in dieser rauen Landschaft fernab der Zivilisation,
die auf Hosenröcke umstiegen, weil sie statt im Damensattel nach Art der Männer
ritten und ihr Haar aufs Geratewohl hochsteckten, die wie die Männer
Schlapphüte trugen und lederne Arbeitshandschuhe und sich von der Sonne das
Gesicht bräunen ließen. Liza Guinness
präsentierte sich stets in hübschen, gefällig ausgeschnittenen Kleidern mit
weiten, gerüschten Ärmeln und einem nicht allzu ausladenden Reifrock, schon um
sich ungehindert hinter dem Empfangstresen ihres Hotels bewegen zu können.
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