Wood, Barbara
Ahnung haben könnten, was vor siebenundzwanzig Jahren passiert ist.«
Und dann, liebste Hannah, dachte er bei sich, wenn ich endlich herausgefunden
habe, wer ich bin, werde ich um deine Hand anhalten.
Sie gab
ihm das Glasfläschchen zurück. »Wie war es eigentlich auf der Borealis?«, fragte sie, während sie an Äckern, Weiden und
umzäunten Koppeln vorbeikamen. Aus den Briefen, die Neal geschrieben hatte,
als er darauf wartete, dass Sir Reginald die notwendigen Vorbereitungen für
die Expedition abschloss, wusste sie bereits von dem bevorstehenden Abenteuer,
aber sie wollte seine Stimme hören, um das von Sehnsucht und Begehren erfüllte
Schweigen zu überbrücken, so etwas wie Normalität zu schaffen.
»Wie es
war?«, wiederholte Neal leise. Er rief sich in Erinnerung, was er empfunden
hatte, als er vor fünf Monaten in Fremantle von Bord des Forschungsschiffs
gegangen war. Er hatte zutiefst bedauert, dass dieses Abenteuer nun zu Ende
war. Und gleichzeitig war etwas in ihm vorgegangen ...
Neal hatte
zur Küste und zum fernen Horizont geschaut, hatte gespürt, wie in ihm etwas
Gestalt gewann, ihn nicht mehr losließ. Jenseits der Berge lag das
geheimnisvolle Hinterland, Outback genannt. Niemand wusste, wie es dort aussah.
Karten von Australien verzeichneten Küstenlinien in allen Einzelheiten, mit Namen,
topographischen Eigenheiten, jeweiliger Besiedlungsdichte. Die Mitte dagegen
war leer, so unbekannt wie der weiße Fleck in Neal selbst. Er wusste nicht, von
wem er abstammte, wie sein Familienname lautete. Er fühlte sich niemandem
zugehörig und an keinen festen Ort gebunden. Und genauso kam ihm Australien
vor, ein Land ohne Identität, ehe man nicht seine kostbaren Geheimnisse
entdeckte. Und als er in Fremantle an Land gegangen war, hatte er die
unwiderstehliche Verlockung gespürt, einer von diesen Entdeckern zu sein.
»Wir haben
Inseln und Flussmündungen erforscht«, sagte er, »Archipele und Riffe. Wir sind
Richtung Norden bis Port Hedland gesegelt und im Süden bis Point Irwin. Es war
spannend, aber auch frustrierend, vom Schiff aus den fernen Horizont zu sehen,
der mich zu rufen schien, das Geheimnis dieser unbekannten Weite zu ergründen.
Als Sir Reginald mir anbot, mich seiner Expedition anzuschließen, habe ich mit
beiden Händen zugegriffen.
Er
lächelte sie von der Seite her an. Eine rein wissenschaftliche Expedition wird
das, Hannah«, sagte er jetzt. »Wir werden Vermessungen und Bewertungen
durchführen und alles, was wir antreffen, analysieren und schriftlich
festhalten. Wir werden den Kontinent für den Fortschritt erschließen, für den
Telegraphen und den Schienenverkehr, damit man eines Tages auf dem Landweg von
Sydney nach Perth reisen kann.« Er seufzte auf und ließ die Zügel knallen. »Wie
schön wäre es, wenn sich mein Adoptivvater ein Bild von Australien machen
könnte. Als ich ein Kind war, sind Josiah und ich oft durch die Wälder
gewandert. Er malt gern. Aquarelle. Wir haben etwas zu essen und Wasser, seine
Staffelei und Farben eingepackt und sind dann losmarschiert. Josiah wäre von
diesem neuen Land begeistert. Leider schrecken ihn Schiffe ab und Reisen übers
Meer.«
Er warf
ihr einen Blick zu und spürte, wie sein Herz einen schmerzhaften Satz
vollführte. Und unvermittelt überlegte er, ob es sich nicht einrichten ließ,
dass er einen Tag später aufbrach. Könnte er, wenn er einen Tag - und eine
Nacht - länger mit Hannah verbrachte, trotzdem noch rechtzeitig zum Aufbruch
der Expedition zurück sein? »Wie steht's mit dir? Erzähl mir doch, was du
alles unternommen hast.«
Hannah
hatte ihm in ihren Briefen von Dr. Davenport berichtet, von ihrem im
Kirkland's Emporium gefassten
Entschluss, aufs Land zu gehen, von Mary McKeeghan und von ihrem Umzug ins
Hotel von Liza Guinness.
Auch Alice hatte sie erwähnt, wenngleich nicht die genauen Umstände, unter
denen sie sich kennengelernt hatten. Hannah schämte sich noch immer, wie naiv
sie gewesen war und dass ihre Verbindungen zu einem Bordell um ein Haar den Ruf
eines guten Arztes ruiniert hätten.
Umso
eingehender kam sie auf ihren Wunsch zu sprechen, ein eigenes Haus mit Garten
zu besitzen. »Ich möchte so gern ein paar Schafe halten und Heilkräuter ziehen;
mir einen festen Platz erschaffen, der auch noch in hundert Jahren existiert.
Nur ist das nicht so leicht in die Tat umzusetzen, wie ich mir das vorgestellt
habe. Als Hebamme bin ich recht gefragt, aber man scheut sich, mich für andere
medizinische Behandlungen zu
Weitere Kostenlose Bücher