Wood, Barbara
Auf den Reifrock hatte sie
verzichtet, er wirkte zu unnatürlich, wie eine Glocke meinte sie darin
auszusehen. Neal starrte sie hingerissen an. Trotz der vielen Unterröcke sah
Hannah umwerfend weiblich aus.
Er
erkannte die ausgefallene blaue Teppichtasche wieder und erinnerte sich, dass
sie Hannahs kostbarsten Besitz enthielt. Jetzt
etwa auch sein Taschentuch, oder befand sich das noch immer an ihrer Brust,
verborgen unter blassrosa Baumwolle und dem schmucken kleinen Spitzenkragen?
Verlangen überflutete ihn. Obwohl sie von Kopf bis Fuß und Handgelenk
vollständig verhüllt und ihr Haar wieder sorgfältig aufgesteckt und von einer
hübschen Haube verdeckt war, strahlte sie mehr erotischen Zauber aus, als wenn
sie nackt da oben an der Treppe gestanden hätte.
Nachdem
sie sich von Mutter und Tochter Guinness sowie von Edna verabschiedet hatten, verließen die beiden das Hotel und stiegen, noch
immer schweigend, in den kleinen Wagen. Neal übernahm die Zügel und ließ das
Pferd antraben.
In dem
zweirädrigen kleinen Einspänner mit dem schützenden Lederverdeck und lediglich
Platz für zwei Personen machte sich eine trauliche Stimmung breit. Die Sonne
verströmte einschläfernde Wärme, das Summen von Insekten erfüllte die Luft,
mischte sich in den Geruch von rotem Staub und Spätsommerblumen. Hannah genoss
das gleichmäßige Schaukeln des kleinen Wagens allein schon deshalb, weil Neal
neben ihr saß und sein Arm beim Hantieren mit den Zügeln immer wieder gegen
ihren drückte. Erregend war das. Ihr Verlangen nach ihm, der süße Schmerz, der
von ihr Besitz ergriffen hatte, raubte ihr den Verstand. Kein Wort brachte sie
heraus. Neal sah ja auch so unglaublich attraktiv aus in seinem weißen
Leinenanzug und dem weißen Strohhut, der so gut zu seinem sonnengebräunten
Gesicht passte. Sie schaute auf die Hände, die die Zügel hielten, schön
geformte Hände waren das, mit einem braunen Haarflaum an den Knöcheln. Männliche Hände.
Auch Neal
vermochte nicht zu sprechen. Dabei hätte er so gern der Leidenschaft, die ihn
erfasst hatte, Ausdruck verliehen, in Form von wohlgesetzten, poetischen
Worten, die sie beeindrucken würden. Aber sein Verlangen nach diesem
zauberhaften Geschöpf an seiner Seite war so mächtig, dass es ihm die Sprache
verschlug. Er konzentrierte sich auf die vor ihnen liegende Straße, auf die
Zügel und das Pferd, versuchte dadurch den Impuls zu unterdrücken, anzuhalten,
Hannah an sich zu ziehen und sie auf der Stelle, hier, inmitten von Bäumen,
sanften grünen Hügeln und Sonnenschein ganz zu besitzen.
»Hast du
etwas aus Boston gehört, etwas über deine Mutter in Erfahrung gebracht?«,
fragte Hannah, als sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte.
»Bis jetzt
noch nicht«, erwiderte er. Neal hatte an Josiah Scott geschrieben, seinen
Adoptivvater, der daraufhin versprochen hatte, Erkundigungen einzuziehen. Des
Weiteren hatte Neal bei einem anderen Anwalt nachgefragt und bei der Behörde,
er hatte an zwei Zeitungsarchive geschrieben und sogar an einen Freund, mit dem
zusammen er studiert hatte - nur um irgendeinen Hinweis zu erhalten, wer ihn
vor Josiah Scotts Tür abgelegt haben könnte. In seinem Antwortschreiben hatte
der Freund gemeint, dass das Tränenfläschchen etwas Besonderes und einzigartig
sei, da Miniaturflaschen in Smaragdgrün nur von wenigen Glasbläsern hergestellt
würden. Und dass er dem nachgehen wolle.
Da er sich
in Gedanken mit diesem Fläschchen beschäftigte, zog er es jetzt aus seiner
Hosentasche und hielt es Hannah hin. Wie herrlich das Grün und die zarten
goldenen Drähte in der Sonne funkelten! »Ich muss dir etwas gestehen, Hannah.
Seit Josiah Scott mich darüber aufklärte, dass ich ein Findelkind bin, habe ich
mir insgeheim eingeredet, dass meine Mutter mich gar nicht loswerden wollte,
sondern aus irgendeinem Grund dazu gezwungen wurde. In den Monaten auf See an
Bord der Borealis hatte ich
viel Zeit, darüber nachzudenken. Dass dieser kleine Behälter kein Flakon mit
kostbarem Parfüm ist, sondern ein Tränenfläschchen, hat mich umgeworfen,
Hannah. Dank dir weiß ich jetzt mit Bestimmtheit, dass meine Mutter mich nicht
aus freien Stücken ausgesetzt hat.«
»Darüber
bin ich froh«, sagte Hannah und sah Neal von der Seite an. Sein gut
geschnittenes Gesicht, die gerade Nase, die schmalen Lippen und das markante
Kinn wirkten im Profil noch anziehender.
»Ich werde
weiterhin Briefe nach Hause schreiben«, meinte er, »an alle, die auch nur die
leiseste
Weitere Kostenlose Bücher