Wood, Barbara
vorangekommen und für eine Berichterstattung
nicht mehr erreichbar.
Jemand
rempelte sie an, zog dann an ihrem Arm. »Verzeihung«, sagte sie und schrie
gleich darauf auf - der Grobian hatte ihr die Teppichtasche entrissen und
flitzte damit auf den Park zu.
»Stehen
bleiben!«, rief sie und rannte ihm hinterher.
Drei
Männer nahmen ebenfalls die Verfolgung auf, brüllten dem Kerl zu, sofort
anzuhalten. Der aber lief weiter, wich im Zickzack Fußgängern und Pferden aus,
nicht ohne sich kurz mal umzuschauen und seine Verfolger mit einem frechen
Grinsen zu bedenken - das ihm allerdings verging, als er merkte, dass einer von
ihnen, ein drahtiger Kerl, ihm bereits dicht auf den Fersen war, ihn gleich
darauf am Kragen packte und unter dem Beifall der Augenzeugen zu Boden warf.
»Vielen
Dank«, sagte Hannah, als der Fremde mit dem wütenden Übeltäter und ihrer
Tasche zurückkam.
Der Mann
schob den jungen Burschen auf Hannah zu und herrschte ihn an: »Na los doch,
entschuldige dich gefälligst bei der Lady.«
»Tut mir
leid«, brummte der verhinderte Dieb und schmiss ihr die Tasche vor die Füße,
ehe er sich laut fluchend vertrollte. Prompt öffnete sich der Verschluss der
Tasche, und ihr Inhalt quoll heraus.
»Ich mach
das schon«, sagte der Fremde und bückte sich, um Hannah beim Einsammeln zu
helfen. Als er zwischendurch aufschaute, weiteten sich seine Augen und seine
Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. »Ist das die Möglichkeit ...«,
sagte er. »Hannah Conroy, die Hebamme.«
Verblüfft
starrte Hannah in das wohlbekannte Gesicht, das so verwittert wie zerfurcht
war, in die zwinkernden, zwischen kleine Fältchen eingebetteten blassblauen
Augen. Was sie jetzt, bei Tage, noch sah, war, dass die Nase von Jamie
O'Brien allem Anschein nach irgendwann mal gebrochen worden war.
Sie war nicht übermäßig krumm, aber auch nicht pfeilgerade. Als schön hätte
Hannah sein Gesicht nicht bezeichnet, dennoch in gewisser Weise als attraktiv.
Was sie jedoch in Bann hielt, waren seine Augen; unter seiner Hutkrempe
schienen sie sie mit wissendem Blick zu beobachten.
Er machte
sich wieder ans Einsammeln der medizinischen Instrumente, der Flaschen mit
Arzneien, der Bandagen, von Papier und Feder und Tintenflasche. Hannah Conroy,
ausgerechnet!, ging es ihm durch den Kopf. Die hübsche kleine Hebamme,
deretwegen er in die Stadt gekommen war - jetzt hatte er sie gefunden!
»Was ist
das denn?«, fragte er, als er nach ihrem Stethoskop griff.
»Das
braucht man, um das Herz abzuhören.« Sein Lächeln wurde frech. »Verrät einem
das, ob da Liebe drin ist?«
Hannah
antwortete nicht. Sie stand auf, strich sich über ihren Rock und sagte:
»Nochmals vielen Dank.«
Er grinste
sie nur dreist an. Mr. O'Brien trug
denselben Hut wie damals, einen breitkrempigen Schlapphut aus braunem Filz mit
einem schwarzen Band. Sein Hemd war allerdings diesmal blassblau, die Ärmel
hatte er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, darüber trug er wieder die
schwarze Weste mit den silbernen Knöpfen. Und wie damals hing das Futteral mit
dem bedrohlich aussehenden Messer an seinem Gürtel.
Er schien
es nicht eilig zu haben, ihren Dank entgegenzunehmen und sich dann zu
verziehen, »'ne ganze Menge Zeugs für 'ne Hebamme«, meinte er.
»Mein
Vater war Arzt«, gab sie zurück. »Das hier waren seine Sachen. Er hat mich
gelehrt, sie einzusetzen.« Als sie das amüsierte Glitzern in O'Briens Augen sah, fühlte sie sich bemüßigt hinzuzufügen: »Es gibt keinen
Grund, weshalb eine Frau sich nicht darauf verstehen sollte, einen Knochen
ebenso gut einzurichten wie ein Mann.«
Der
belustigte Ausdruck in seinen Augen wich einem anderen, der nicht zu deuten
war. Während Passanten einen Bogen um die beiden machten, die da den Weg
blockierten, überprüfte Hannah den Inhalt ihrer Teppichtasche, um
sicherzugehen, dass auch alles wieder da und gut verstaut war, und war
gleichzeitig bemüht, die prüfenden Blicke dieses steckbrieflich gesuchten
Banditen an sich abgleiten zu lassen, der seinerseits hin und her überlegte,
wie er Miss Conroy überreden könnte, einen Abend mit ihm zu verbringen.
Mit seinen
dreiunddreißig Jahren hatte Jamie O'Brien bereits
viele Frauen kennengelernt. Hatte sie geliebt und verlassen und konnte sich an
kein einziges Gesicht erinnern. Nur Hannah Conroy war ihm klar und deutlich im
Gedächtnis geblieben. Und jetzt, da sie leibhaftig vor ihm stand, an einer
belebten Straßenecke und während die Maisonne hin und wieder durch
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