Word-OleSte-DerTou
konzentrierte sich in ihren Lektionen auf seine Befreiung. Wenn er ein wenig älter war zwölf oder dreizehn, erklärte sie -, wollte sie ihn mitnehmen, denn dann würde er die Doktrin vom totalen Krieg verstehen. Gegen wen? Gegen die kleinen Stimmen. Obwohl er so wenig begriff, fand er die Vorstellung aufregend, mit ihr hinaus in die Nacht zu verschwinden. Aber dazu kam es nicht.
Nach dieser intensiven Woche kehrten die Träume nie wieder, und erst viel später erfuhr er, dass sie gestorben war, bevor sie ihn abholen konnte. In einem deutschen Gefängnis. Durch Selbstmord.
War das die große Stimme? Eine Stimme, die aus den steinernen Mauern des Hochsicherheitstrakts von Stuttgart - Stammheim sprach und sie dazu bewegte, ihre Gefängnishose auszuziehen, ein Bein an die Gitterstäbe der Tür und das andere um ihren Hals zu binden und sich dann mit der Begeisterung eines religiösen Eiferers im Sitzen zu erhängen?
Wäre sie dazu in der Lage gewesen, wenn sie ihren richtigen Namen behalten hätte? Hätte sie es tun können, wenn sie sich noch als Mutter bezeichnet hätte? Er fragte sich, ob er selbst die letzten Jahre überleben und sich dann so beiläufig für Selbstmord hätte entscheiden können, wenn er seinen eigenen Namen nicht abgelegt hätte.
Womit er wieder beim Thema angelangt war.
Als das Restaurant um zehn schloss, warf er noch einen letzten Blick auf Ugrimows Eingangstür. Dann trabte er, manchmal behindert durch Sackgassen, in westliche Richtung, bis er den am Wasser gelegenen Säulengang der Scuola Vecchia di Santa Maria della Misericordia erreichte. Die dritte Tür, hatte ihm Grainger eingeschärft. Also zählte er bis drei und legte sich, obwohl sich sein Magen wieder meldete, flach auf die Pflastersteine, um über den Rand des Fußgängerwegs hinunter in den übelriechenden Kanal zu greifen.
Da er nichts sehen konnte, musste er tasten. Er berührte Steine, bis er auf den einen stieß, der sich von den anderen unterschied. Inzwischen waren diese Verstecke, die der CIAVorläufer Pond im Nachkriegseuropa angelegt hatte, schon über fünfzig Jahre alt. Viele waren entdeckt worden, andere waren schlecht ausgeführt und daher von selbst aufgebrochen, doch die verbliebenen leisteten immer noch wertvolle Dienste. Er schloss die Augen, um sich auf seinen Tastsinn zu konzentrieren. Am unteren Ende des Steins befand sich ein Riegel. Er zog daran, und der obere Teil löste sich ab. Nachdem er den Deckel beiseitegelegt hatte, griff er in das offene Loch und entdeckte darin einen schweren Gegenstand in einer luftdichten Verpackung. Im Mondschein riss er die Plastikhülle auf. Sie enthielt eine Walther P99 und zwei Magazine, alles wie neu.
Er setzte den Deckel zurück auf den Stein und machte sich auf den Weg zur Barba Fruttariol. Durch dunkle Straßen wandernd, umschlich er den Palazzo und näherte sich immer wieder aus einer anderen Richtung, um die Haustür zu überprüfen oder zu den Lichtern auf Roman Ugrimows Terrasse hinaufzuspähen. Manchmal erkannte er dort oben Gestalten - Ugrimow, seine Bodyguards und ein junges Mädchen mit langem, glattem braunem Haar. Die »Nichte«. Doch nur die Leibwächter passierten die Tür und kamen mit Lebensmitteln, Wein, Schnaps und einmal sogar mit einem Zigarrenbefeuchter aus Holz zurück. Nach Mitternacht vernahm er einigermaßen erstaunt Opern klänge, die von der Terrasse herabwehten.
Während ihn die miauenden Katzen ignorierten, versuchten insgesamt drei Besoffene, in dieser Nacht Freundschaft mit ihm zu schließen. Die ersten zwei ließen sich durch sein Schweigen abschrecken, doch der dritte legte Charles den Arm um die Schulter und redete ihn in vier Sprachen an, um ihn zu einer Antwort zu bewegen. In einer plötzlichen Aufwallung stieß er dem Mann den Ellbogen in die Rippen, legte ihm die Hand vor den Mund und hämmerte ihm die Faust zweimal hart an den Hinterkopf. Beim ersten Hieb der Mann ein Gurgeln von sich, beim zweiten sackte er zusammen. Wütend auf sich selbst, hielt er den Bewusstlosen ein p aar Sekunden fest, dann schleif te er ihn auf einer Bogenbrücke über den Rio dei Santi Apostoli und versteckte ihn in einer Seitengasse.
Gleichgewicht - das Wort fiel ihm wieder ein, als er zitternd über die Brücke zurückkehrte. Ohne Gleichgewicht wird das Leben sinnlos, die Mühe lohnt sich nicht mehr.
Diese Arbeit machte er jetzt seit sechs, nein, seit sieben J ahren. Ohne feste Basis schwebte er von Stadt z u Stadt, angetrieben von trans atlantischen
Weitere Kostenlose Bücher