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schockiert. In Einzelteilen erschien die Geschichte vielleicht sinnvoll, aber in dieser gedrängten Form bekam sie etwas Tragisches und fast Unglaubliches. Auch Tina fühlte sich wie erschlagen.
Perkins' Antwort kam im Flüsterton. »Ich weiß nicht, ob sie entlassen wurde. Hab nie nachgeforscht. Und sie hat sich nie gemeldet.«
Tina fing an zu weinen. Es war ihr peinlich, aber sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Je mehr sie herumstocherten, desto mehr Scheiße wühlten sie auf.
Perkins starrte sie erschrocken an und wandte sich mit fragendem Ausdruck an Simmons, die ihn mit einem Kopfschütteln zum Schweigen mahnte. Sie strich Tina über den zitternden Rücken. »Urteilen Sie nicht vorschnell, Tina. Vielleicht weiß er überhaupt nichts davon. Denken Sie daran, wir wollen nur die Wahrheit rausfinden.«
Tina nickte, obwohl diese Worte nur ein schwacher Trost waren. Schließlich wischte sie sich Nase und Augen ab. Nach ein paar tiefen Atemzügen hatte sie sich wieder im Griff. »Tut mir leid.« Ihre Entschuldigung galt Perkins.
»Macht doch nichts, meine Liebe.« Er beugte sich vor, um ihr Knie zu tätscheln, was sie als unangenehm empfand. »Ein paar Tränen haben noch keinem geschadet. Deswegen ist man noch lange kein Schwächling.«
»Danke.« Tina hatte keine Ahnung, wofür sie sich bedankte.
Simmons ließ nicht locker. »Können wir vielleicht noch mal auf Milo zurückkommen?«
Perkins setzte sich gerade auf, um zu zeigen, wie viel Energie er noch besaß. »Schießen Sie los.«
»Ellen verschwindet 1979, und sechs Jahre später, 1985, sterben Wilma und Theo bei einem Autounfall. Stimmt das?«
»Ja.« Die Feststellung einer Tatsache.
»Und dann wird Milo in ein Waisenhaus geschickt. Nach Oxford in North Carolina. Richtig?«
Er brauchte eine Weile für seine Antwort. Stirnrunzelnd ging er seine Erinnerungen durch, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Sein Vater hat ihn zu sich genommen.«
»Sein Vater?«
»So ist es.«
Tina gelang es zwar, die nächste Tränenflut zu unterdrücken, aber dafür wurde ihr schlecht. Alles, alles, was sie über Milos Leben wusste, war eine Lüge. Und dadurch wurde auch ein großer Teil ihres eigenen Lebens zu einer Lüge. Auf einmal stand ihre ganze Wirklichkeit infrage.
»Der Vater.« Simmons klang, als wüsste sie über alles Bescheid, und vielleicht war es ja auch so. »Er ist wahrscheinlich gleich nach der Beerdigung aufgetaucht, oder? Oder direkt beim Begräbnis?«
»Das weiß ich nicht genau.« »Warum nicht?«
»Weil ich nicht bei der Beerdigung war.« »Na schön. Was ist also passiert?«
»Ich wollte nicht hin«, antwortete er. »Aber Minnie hat mich bearbeitet. Schließlich war sie unsere Tochter. Unsere Tochter, die zu Lebzeiten kein Wort mit mir geredet hat. Warum sollte ich ihr da nach ihrem Tod die Ehre erweisen? Und Milo? Er ist doch unser Enkel, hat sie mir vorgejammert. Wer wird sich denn jetzt um ihn kümmern? Aber ich bin hart geblieben. Minnie, hab ich gesagt, wir haben fünfzehn Jahre lang keine Rolle in seinem Leben gespielt, der braucht uns jetzt auch nicht. Aber sie hat das ganz anders gesehen. Und vielleicht hatte sie gar nicht so Unrecht.« Er hob die Hände. »Okay, heute kann ich das zugeben, aber damals konnte ich es nicht. Damals war ich stur.« Er zwinkerte selbstgefällig, und Tina schmeckte Galle. »Also ist sie hingefahren, und ich bin zu Hause geblieben. Eine Woche lang musste ich für mich selbst kochen, dann kam sie zurück. Hatte aber keinen Jungen dabei und war auch nicht besonders aufgeregt deswegen. Eigentlich wollte ich gar nichts hören, aber sie hat's mir trotzdem erzählt. So war Minnie eben.«
»Was hat sie Ihnen erzählt?« Tina fühlte sich wie gelähmt. »Moment.« Er schniefte. »Anscheinend hatte Milos Vater von der Geschichte gehört und ist angereist, um seinen Sohn abzuholen. So hat es Minnie wenigstens verstanden. Aber das ist noch nicht das Beste: Nicht nur, dass der Mann sich vorher noch nie hatte blicken lassen, er war obendrein ein Russe! Können Sie sich das vorstellen?«
»Nein«, flüsterte Tina, »das kann ich mir nicht vorstellen.«
Simmons hatte da keine Probleme. »Und wie hieß dieser Russe?«
William T. Perkins drückte die Augen zu und umfasste die Stirn, als hätte ihn der Schlag getroffen, aber es war nur seine Art, nach jahrzehntelang begrabenen Erinnerungen zu wühlen. Sein Gesicht war rot, als er die Hand wegzog. »Jewi? Nein, Geni. Genau: Jewgeni. So hat ihn Minnie
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