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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Entdeckung.
    Was er dort auf der Veranda erblickte, war wie ein erhörtes Gebet: Fleisch. Sattes, rotes, lebenserhaltendes Fleisch. Er hatte die Tür aufgezogen, um draußen auszutreten, und lief direkt in den abgehäuteten und frisch ausgenommenen Kadaver eines Rehs, der an den Hinterläufen vom Verandadach herabhing. Er konnte es nicht fassen. Ein Reh. Hing einfach so da. Und schon geschlachtet. Jeremias stieß zwei hungrige Freudenschreie aus – Staats, das konnte nur Staats gewesen sein –, und in der Zeit, die es dauert, bis man ein Messer zieht, drehte sich eine Keule auf dem Spieß, und eine zweite brodelte im Topf. Er war so aufgeregt, daß seine Hände bebten. Den Gesichtsausdruck seiner Schwester bemerkte er nicht.
    Als er ihn schließlich doch bemerkte, erfüllte das Aroma von gebratenem Wild den Raum. Katrinchee war in die Ecke zurückgewichen, eingeschrumpft wie eine verhungerte Spinne in ihrem Netz. »Bring das weg hier!« sagte sie. »Bring es raus!«
    Schon beleckten die Flammen von unten das Fleisch; das Fett färbte die Keule golden und tropfte zischend in die Kohlenglut. Der kleine Jeremy stand wie gebannt vor dem Feuer, die Hände in den Hosen und ein verzücktes Lächeln auf den Lippen, während Jeremias im Zimmer herumstöberte, auf der Suche nach etwas Gemüse für den Suppentopf. Der Tonfall seiner Schwester ließ ihn abrupt innehalten. »Was? Was sagst du da?«
    Sie zwirbelte den Saum ihres Kleides mit beiden Händen, als wollte sie eine Puppe erwürgen. Das Haar hing ihr ins Gesicht. Und ihr Gesicht – eingefallen und kreidebleich, die Augen vor Entsetzen geweitet – war das Gesicht einer Verrückten, die an den Gittern des Irrenhauses von Schobbejacken rüttelte. »Dieser Geruch«, murmelte sie kaum hörbar. Im nächsten Augenblick kreischte sie los: »Bring es raus! Bring es fort von hier!«
    Jeremias konnte kaum sprechen, so lief ihm das Wasser im Munde zusammen, er konnte kaum denken, weil er sich vorstellte, wie Messer und Gabel das Fleisch zerteilen würden, und er sah sie nur verschwommen, weil sich die Bilder der goldbraunen, triefenden Keule am Spieß und des süßen kleinen Hufs, der aus dem Kopftopf ragte, dazwischendrängten. Doch dann blickte er sie fest an, und auf einmal begriff er: sie meinte das Fleisch. Das Wild. Sie wollte es ihm wegnehmen. Als er sprach, sprudelten die Worte nur so hervor. Das war doch alles Vergangenheit, sagte er ihr – sie mußte jetzt vernünftig sein. Was sollten sie denn essen? Schon jetzt brachen sie das Saatgut an. Sollten sie vielleicht die Tiere schlachten und im nächsten Jahr verhungern? »Es ist nur ein Reh, Katrinchee. Frisches Fleisch. Sonst nichts. Iß davon, damit du bei Kräften bleibst – oder iß es nicht, wenn du wirklich nicht kannst. Aber du kannst doch nicht ... willst du mich wirklich daran hindern, deinen eigenen Bruder?... und was ist mit deinem Sohn?«
    Sie schüttelte nur den Kopf, unerbittlich, untröstlich, erschüttert vor Gram. Sie schluchzte. Kaute auf den Nägeln. Jeremy kuschelte sich in ihren Rock; Jeremias kam vom Herd herüber, um sie in den Arm zu nehmen, sie zu beruhigen, auf sie einzureden. »Nein«, sagte sie, »nein, nein, und tausendmal nein«, und schüttelte bis tief in die Nacht hinein den Kopf, während ihr Bruder und ihr Sohn am Tisch saßen und jeden einzelnen Knochen des Rehs abnagten, ehe sie ihn mit dem Hammer aufbrachen, um an das nahrhafte, körnige Mark zu gelangen. Katrinchee war inzwischen alles egal. Zum zweitenmal in ihrem kurzen Leben stand sie auf der Kippe und stürzte hinunter.
    Es war Februar. Der Schnee fiel unbarmherzig und ohne Unterlaß, Berge davon überzogen die Landschaft mit eisblauen Wellen wie der Faltenwurf eines Totenhemdes. Mittlerweile waren sie bei Viertelrationen Mais angelangt, und selbst damit dezimierten sie die Saat für das Frühjahr. »Ein halber Scheffel davon«, rechnete Jeremias, während er die harten Körner zerstampfte, »würde uns im Sommer hundert Pflanzen bringen. Aber was soll man machen?« Katrinchee konnte vor Schuldgefühl kaum den Löffel zum Mund heben. Schlafen konnte sie auch nicht mehr richtig, denn die Visionen von Vater, Mutter, dem kleinen Wouter verfolgten sie, sobald sie die Augen schloß. Das Reh war nicht von Staats gewesen – er durchstöberte selbst die Wälder verzweifelt nach Fleisch, hatte er ihnen neulich erzählt, eine Woche nachdem das zweite Reh, ausgenommen, abgehäutet und zerlegt, auf geheimnisvolle Weise vor dem Haus

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