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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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erschienen war. Sie hatte es die ganze Zeit gewußt. Nicht von Staats, nicht vom lieben Gott im Himmel. Nein, ihr armer Vater, den sie so gräßlich verbrüht hatte, war es gewesen ... um sie zu bestrafen.
    Eines Nachts erwachte Jeremias aus einem traumlosen Schlaf und spürte einen kalten Luftzug im Gesicht. Als er die Augen aufschlug, sah er, daß die Tür offenstand und daß die Hügel und die Berge und die tristen Schneeflächen zu ihm ans Bett gekommen waren. Fluchend stand er auf und durchquerte den Raum, um die Tür zuzuknallen, doch im letzten Moment machte ihn etwas stutzig. Spuren. Da waren Spuren – Fußspuren – im frischen Pulverschnee auf der Veranda. Jeremias betrachtete sie eine Weile verdutzt, dann schob er die Tür leise zu und flüsterte heiser den Namen seiner Schwester. Sie antwortete nicht. Als er die Kerze anzündete, bemerkte er zu seinem Schrecken, daß der kleine Jeremy allein im Bett lag. Katrinchee war weg.
    Diesmal – das erste Mal – fand er sie, zusammengekauert unter der Weißeiche. Sie war im Nachthemd, und sie hatte sich mit einem Messer das Haar abgeschnitten; Strähnen davon lagen um sie herum im Schnee wie die Überreste einer nachtblühenden Pflanze. Im Haus versuchte er, sie zu besänftigen. »Es ist ja gut«, tröstete er sie und drückte sie dabei an sich. »Was hast du denn – war es ein böser Traum?«
    Es war eine Szene wie auf einem Gemälde: die Tiere an der Krippe, das schlafende Kindlein, der verstümmelte Bruder, die wahnsinnige Schwester. »Ein Traum«, echote sie, und ihre Stimme klang abwesend und weit weg. Hinter ihnen blökte unglücklich das Kalb, und die Eber grunzten im Schlaf. »Ich fühle mich so ... so ...« (eigentlich wollte sie »schuldig« sagen, aber es kam anders heraus) »... so hungrig .«
    Jeremias brachte sie zu Bett, legte Brennholz nach und kochte Milch für einen Haferbrei. Katrinchee lag reglos auf der Maisstrohmatratze und starrte zur Decke. Als er ihr den Löffel an die Lippen hielt, schob sie ihn weg. Genauso war es am nächsten Tag und am Tag darauf. Er machte einen Eintopf aus Rüben und Stockfisch, buk ein schweres, hartes Brot (das Mehl war leider voller Würmer), reichte ihr ein dickes Stück Käse dazu, schnitt einem der Ferkel die Ohren ab, um eine Fleischbrühe daraus zu kochen, aber sie wollte einfach nichts essen. Sie lag da und starrte vor sich hin, das pergamentene Weiß ihres Schädels leuchtete durch die Stoppelhaare, die Wangen sanken immer tiefer ein.
    Anfang März, in einer Nacht, in der die Hoffnung auf warmes Wetter aus der Regenrinne tropfte, machte sie sich zum zweitenmal davon. Diesmal zog sie die Tür hinter sich zu, und Jeremias bemerkte ihr Fortgehen erst bei Morgengrauen. Unterdessen hatte es zu schneien begonnen. Feuchte, dicke Flocken, die zweimal in Nieselregen übergingen, eine Weile an der Grenze zum Frost zögerten und sich schließlich, unter den Windstößen, die vom Fluß heraufbliesen, in einen Wirbelwind von harten, brennenden Eiskörnern verwandelten. Bis Jeremias den Jungen angezogen und sich auf die Suche gemacht hatte, blies der Wind stetig, und man sah keine zehn Meter weit.
    Diesmal gab es keine Spuren. Den Jungen auf dem Rücken, mit dem Holzbein dahinrutschend, beschrieb Jeremias immer größer werdende Kreise um die Hütte und schrie ihren Namen in den Wind. Keine Antwort. Die Bäume blieben stumm, nur der Wind warf seine Stimme auf hundert kunstvolle Weisen zurück, Eisperlen rollten ihm über Mantel, Mütze und Schal. Erschöpft stolperte er dahin, fürchtete im Schnee die Orientierung zu verlieren, fürchtete um Jeremys Leben wie um sein eigenes, daher kehrte er schließlich um und humpelte zur Hütte zurück. Am frühen Nachmittag versuchte er es noch einmal, schaffte es bis zu dem Maisfeld, wo er Wolf Nysen getroffen hatte. Einen Moment lang glaubte er, sie zu hören, weit weg in der Ferne, die Stimme zu einem markerschütternden Jammern erhoben, doch dann heulte der Wind auf, und er war sich nicht mehr sicher. Er rief ihren Namen, wieder und wieder, bis sein Fuß taub wurde und der Wind ihm die Kraft aus dem Körper sog. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit brachte er Jeremy zu Bett und ging nochmals hinaus, aber die Schneewehen waren dermaßen hoch, daß seine Kräfte versagten, ehe er das Maisfeld erreichte. »Katrinchee!« brüllte er, bis er heiser wurde. »Katrinchee!« Als Antwort hörte er nur den seltsam wehklagenden Ruf einer großen Schnee-Eule, die durch den Sturm flatterte wie

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