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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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und war nach Hause getrampt.
    »Und was willst du jetzt machen?« fragte ihn sein Großvater, als er ankam.
    Zusammengekauert und verdreckt saß er da, den drei Meter langen kanariengelben Schal wie eine Anakonda um den Hals gewickelt, den deutschen Fliegermantel aus dem Ersten Weltkrieg bis zur Hüfte aufgeknöpft, und zuckte die Achseln. »Keine Ahnung«, sagte er. »Werd mir vielleicht einen Job suchen.«
    Sein Großvater, das einstige Oberhaupt der Schulen von Van Wartville und Peterskill und ein vehementer Verfechter der Würde der Arbeit und von John Deweys Theorie der praxisnahen Ausbildung, knurrte verächtlich. Er war siebenundsiebzig, und seine Augenbrauen hoben und senkten sich wie große weiße Eulen beim Niederstoßen auf die Beute.
    »Ich wollte dich eigentlich fragen, ob ich in der Hütte wohnen kann.«
    Einen Moment lang war der Alte sprachlos. »In der Indianerhütte?« fragte er schließlich, wobei in seiner Stimme das Vibrato einer bärbeißigen Ungläubigkeit lag. »Da draußen am Ende der Welt? Du lieber Himmel, da erfrierst du ja.«
    O nein, erfrieren würde er nicht. Im letzten Sommer hatte er einen neuen Holzofen eingebaut, die Fenster erneuert und alle Ritzen in den Wänden mit Spänen und Holzkitt verklebt. Und im Sommer davor hatte er eine Veranda konstruiert, ein chemisches Klosett installiert und genügend verdreckte Sperrmüllmöbel herangeschafft, um die Hütte bewohnbar zu machen. Außerdem hatte er einen guten Daunenschlafsack und zwanzig Hektar Feuerholz hinter dem Haus.
    Sein Großvater, der die scharfe Hakennase und den durchbohrenden Blick der Cranes geerbt hatte, war schon in Tom vernarrt gewesen, als er noch in der Wiege gestrampelt hatte, und jetzt, da sein eigener Sohn gestorben war, hing der Alte mit einer Innigkeit an ihm, in der die Verzweiflung von sterbendem Blut lag. Mit einem Wort, es war kinderleicht, ihn zu überzeugen. »Wenn du möchtest«, sagte er schließlich und stieß einen Seufzer aus, der beinahe die Vorhänge flattern ließ.
    Und so lebte er nun dort, wie ein Einsiedler, ein Mann der Berge, ein Heiliger der Wälder und Held des Volkes, befreit von den kleinlichen Geldsorgen, die Ladeninhaber wie Schichtarbeiter gleichsam belasten. Natürlich war es recht kühl, und ja, die Notwendigkeit zwang ihn bisweilen, zur Van Wart Road hinüberzustapfen und die zwei Meilen bis zum Haus des Großvaters zu trampen für ein warmes Essen, das rituelle Abstreifen der langen Unterhosen und das Eintauchen in eine dampfende Badewanne, aber er hatte es geschafft. Die Unabhängigkeit war sein! Selbstbestimmung! Die Freuden des Nichtstuns! Den ganzen Vormittag lag er im Bett, eingehüllt in seinen Schlafsack, konnte kaum die Arme bewegen unter der Last unzähliger indianischer Decken und eines alten, stinkenden Waschbärpelzes, den er im Schrank seiner Großmutter gefunden hatte, und sah zu, wie sein Atem in der Luft hing. Manchmal stand er auch auf, machte eine Büchse mit Maiskörnern auf und stellte sie auf den Kerosinkocher, oder er brühte sich eine Tasse Kräutertee oder Kakao, aber meistens blieb er einfach liegen, hörte seinem Bart beim Wachsen zu und genoß seine Freiheit. So gegen zehn oder elf – er wußte das nicht genau, hatte keine Uhr – begann er zu lesen. Normalerweise fing er mit etwas Leichtem an, mit irgendeinem Fantasy- oder Science-fiction-Schmöker, mit Tolkien oder Vonnegut oder Salmón. Nach dem Mittagessen – Kichererbsenpüree mit Naturreis in Linsensoße aus dem Fünfundzwanzig-Liter-Topf – machte er sich an die gewichtigeren Sachen: Lenin, Trotzki, Bakunin, billige Broschüren mit grauen oder grünen Einbänden, das Papier nicht besser als bei einer Zeitung. Was kümmerten ihn schon Lederrücken und Holzgehalt? – schließlich las er für die Revolution.
    Jetzt aber, in dieser bitterkalten Winternacht, während Walter sich in seinen Heidegger vertiefte und Jessica ihre Gedanken den Holothuroidea widmete, zog Tom Crane seine rosa Wildlederstiefel mit Schnürverschluß an (leider verunziert mit Motorölflecken, die er durch Auftragen einer Lösung aus Tetrachlorkohlenstoff und Waschbenzin zu entfernen versucht hatte), fuhr in die mit Wolfszähnen behängten Hosen mit Schlag, die an seinen knochigen Knien hauteng anlagen und um die Füße eine Art Lampenschirm bildeten. Er schlüpfte in den Fliegermantel, wickelte sich den Schal um den Hals wie eine Mumie und stürzte zur Tür hinaus, durchdrungen von einer Erregung, die seine langen, hageren

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