World's End
Bier oder einen Riesen-Hamburger mit Gurken, Gewürzen, Mayonnaise, Senf und Drei-Sterne-Chilisoße bestellte, ehe er noch Jessica in sein Zimmer über der Küche verschleppte, um fortzusetzen, was er auf dem harten Krankenhausbett im Ostflügel begonnen hatte –, war folgendes: er fuhr zu der Gedenktafel und las die Inschrift, wie es ihm der barfüßige Geist seines Vaters geraten hatte. Jessica saß am Steuer. Sie trug Sandalen und ein Hemd, das aus dem duftigen Stoff von Unterwäsche gemacht war, und hatte Schmuck angelegt, Make-up und Parfüm aufgetragen. Walter sah aus dem Fenster die Bäume vorbeiflitzen, einen nach dem anderen, in endloser, ungebrochener Folge, in so intensivem Grün, daß er seine Augen schützen mußte; Jessica summte mit dem Autoradio mit. Sie war überschwenglich, unbeschwert, fröhlich und zwanglos; er war mürrisch und in sich gekehrt. Sie plapperte unentwegt über Pläne für die Hochzeit, erzählte ihm Witze, zupfte an der Goldfolie am Hals der Flasche Moët et Chandon, die zwischen ihren Schenkeln klemmte, und wartete mit dem neusten Klatsch über gemeinsame Bekannte auf – Hector, Tom Crane, Susie Cats –, als wäre er ein Jahr fort gewesen. Er hatte wenig zu sagen.
Das Schild – vielmehr die historische Gedenktafel – war von Walters Ansturm kaum beschädigt worden. Der Stützpfosten hatte eine kleine Beule, wo die Fußraste aufgeprallt war, und das ganze Ding war um ein oder zwei Grad nach hinten gekippt, so daß die Aufschrift am bequemsten von den unteren Ästen des Ahornbaums auf der anderen Straßenseite zu lesen war, doch fraglos hatte Walter wesentlich schwerere Folgen davongetragen als das Werkzeug seiner Verstümmelung. Soviel konnte er schon vom Autofenster aus erkennen, als sie am Straßenrand anhielten. Wie ein Krebs, der seinen Panzer abwirft, kroch er aus Jessicas VW heraus, stützte sich dabei auf die Krücken – sobald er sein Gewicht auf den immer noch empfindlichen Stumpf des rechten Beins verlagerte, brannte es jedesmal wie Feuer – und humpelte hinüber, um die Inschrift zu entziffern, die für ihn inzwischen so bedeutsam und geheimnisvoll war, wie es die Gesetzestafeln vom Berg Sinai für die Stämme Israels gewesen sein mußten. Er hätte Jessica oder Lola oder Tom Crane bitten können, es sich anzusehen, während er hilflos im Bett lag, gequält vom Bild seines Vaters und der brutalen Vermischung von Traum und Wirklichkeit, doch er wollte es lieber so haben. Immerhin war er nicht gegen einen Baum, Briefkasten, Hydranten oder Laternenpfahl geknallt, sondern gegen ein Schild – ein Symbol, ein Zeichen, einen Bedeutungsträger –, ja, gegen ein Schild, und es hätte ebensogut mit Hieroglyphen bemalt sein können, so wenig hatte er es früher beachtet. Es mußte eine Botschaft sein. Er sehnte sich nach einer Erklärung.
Es war heiß. Das Ende des Sommers. Autos schossen mit einem saugenden Geräusch vorbei. Kein Blut war zu sehen, keine Ölspur auf der Straße – nur das verbeulte Schild. Er las:
An dieser Stelle ergab sich im Jahre 1693 Cadwallader Crane, Anführer eines bewaffneten Aufstands auf dem Gut der Van Warts, den Behörden. Er wurde 1694 zusammen mit seinem Mitverschwörer Jeremy Mohonk auf dem Galgenhügel von Van Wartville gehenkt.
Er las es, doch erklärt war damit nichts. Er stand da wie versteinert, las es genau durch, Wort für Wort. Und dann, nach einer langen Zeit, in der er seine Träume, seinen Vater und das Amt für historische Denkmäler verfluchte, schwang er auf seinen Krücken herum und humpelte zum Wagen zurück.
Zu Hause – die Welt war ihm unter den Füßen weggezogen worden, hatte sich ebenso deutlich und unwiderruflich verändert, als wäre auf ihr ein Komet zerschellt oder eine Delegation dreiköpfiger Besucher von Alpha Centauri gelandet, und dennoch war hier alles wie vorher, bis hin zu den stummen Streifen des Sonnenlichts, das auf den türkischen Läufer fiel wie ein Segen, und zu den Zwillingslampen mit den Schirmen, die in Farbe und Textur an uraltes Pergament erinnerten – stand Walter verlegen mitten in der vollgeräumten Bude und ließ Lolas sehnige Umarmung über sich ergehen. An den holzverkleideten Wänden hingen immer noch die sepiagelben Fotos von Lolas Eltern in ihren moldauischen Mänteln, Galoschen und Pelzmützen; die Schwarzweißbilder von Klein Walter in seinem Baseballdress; die überbelichteten Schnappschüsse von Lola und Walters Mutter in der High-School, beide mit langem Haar, die Arme
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