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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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untergehakt; und auf dem Ehrenplatz über dem Kaminsims das schwülstige offizielle Porträt von Lenin. Das Zyperngras in der Ecke war immer noch vertrocknet, und das leere Aquarium mit der zerklüfteten Kruste von versteinertem Schlick überzogen. Auf den Regalen, zwischen den verblichenen Einbänden und zerknitterten Schutzumschlägen von Büchern, die noch nie herausgenommen worden waren, so lange Walter zurückdenken konnte, kauerten die Tiger und Elefanten aus Porzellan, die elfenbeinernen Springer und Türme und Bauern, mit denen er als Junge gespielt hatte, alles genau so, wie er es an jenem lang vergangenen Morgen der Kartoffelpuffer verlassen hatte. Er war auf den Tag zwei Wochen weg gewesen. Alles war wie früher, und alles war verändert. »Tja«, sagte Lola. »Da bist du also wieder da.«
    Jessica stand neben ihm, nestelte an ihrer Handtasche. Sie hatte ein verlegenes Lächeln aufgesetzt. Lola lächelte auch, doch ihr Lächeln war müde und wehmütig. Walter ertappte sich dabei, daß er wider Willen zu ihr zurücklächelte. Allerdings war es kein tröstendes Lächeln. Er war zu verwirrt – zu niedergeschmettert von dem Gespenst des Vertrauten, das jedesmal, wenn er zu seinem rechten Fuß hinabsah, wie eine im Gebüsch erdrosselte Kreatur aufschrie –, um zwanglos wie ein liebender Sohn zu lächeln. Nein, sein Lächeln war eher ein Zähnefletschen.
    Ob er etwas essen wollte, fragte Lola. Ein bißchen Borschtsch vielleicht? Mit Roggenbrot? Tee? Kekse? Wollte er sich nicht hinsetzen? War es zu warm? Sollte sie den Ventilator anstellen? Hesh würde ja Augen machen, wenn er von der Arbeit heimkam.
    Walter wollte keinen Borschtsch. Und Roggenbrot, Tee oder Kekse auch nicht. Ihm war nicht zu warm. Der Ventilator konnte aus bleiben. Er freute sich darauf, Hesh wiederzusehen. Einstweilen aber – hier warf er Jessica einen vielsagenden Blick zu – wollte er nur in sein Bett. Und zwar zum Ausruhen. Er würde den Champagner nicht trinken, sich weder Bier noch Monster-Hamburger genehmigen, und er würde keinen Akt der Liebe und Bekräftigung mit seiner Verlobten vollziehen. Statt dessen würde er die Stufen zu seinem Jugendzimmer hinaufsteigen wie ein aus der Schlacht heimgekehrter Soldat, wie ein Märtyrer, und er würde die Jalousien herunterlassen, sich auf dem Bett ausstrecken und zusehen, wie die Schatten immer dichter wurden.
    Beim Aufwachen am nächsten Morgen roch er den Duft von Kartoffelpuffern, einen Duft, der über ihn kam wie ein Schlag ins Gesicht. Er setzte sich im Bett auf, übermannt von Angst und Ekel. Der Zyklus fing wieder von vorne an. Schon begannen die sorgenumwölkten Augen seiner Mutter sich aus dem Dunkel der Ecke hinter der Kommode zu lösen. In der nächsten Minute würde ihm die Großmutter über die Schulter sehen, und sein Vater würde sich über ihn lustig machen und weitere kryptische Botschaften verkünden. Es war nicht auszuhalten. Wie viele Pfund seines Fleisches mußte er denn opfern? Wie viele Gliedmaßen? Ungeschickt zog er die Riemen der Prothese fest, fuhr in seine Kleider, packte die Krücken und stürzte die Treppe hinab wie ein Gehetzter.
    Es war 7.00 Uhr. Hesh und Lola saßen in der Küche und unterhielten sich leise. Im Haus raunten die kleinen, beruhigenden Geräusche, die er im Krankenhaus vermißt hatte – das Gluckern in den Wasserrohren, das Brummen von Kühlschrank und Geschirrspüler. Draußen fielen die Sonnenstrahlen durch Ulmen und Ahornbäume, ergossen sich über den Rasen und in den Garten. Walter blieb einen Augenblick am Fenster stehen, um sich zu sammeln. Er sah Mais. Tomaten. Kürbisse, Gurken, Melonen. Die hatte Hesh gepflanzt. Im Mai. Bevor Walter die Arbeit bei Depeyster Manufacturing angefangen hatte, bevor er die Norton aufgemöbelt und im Duft von Kartoffelpuffern einen Geist entdeckt hatte. Und jetzt waren sie da, im Boden verwurzelt.
    In der Küche stellte er die Krücken an die Wand und setzte sich gegenüber von Hesh an den Tisch. Lola stand am Gasherd und wendete Kartoffelpuffer. »Ich hab dein Lieblingsgericht gemacht, Walter«, sagte sie.
    Der Geruch war unerträglich. Er war tödlich. Lieber hätte er den Gestank von brennendem Plastik eingeatmet, von Nervengas, von Blut und Innereien und Scheiße. Ein Glas Milch stand neben seinem Teller. Er trank einen Schluck. Die Milch war warm. »Ich habe keinen Hunger«, sagte er.
    »Keinen Hunger?« echote Hesh. Er hockte über seinem Brötchen wie ein Adler, der seine Beute verbirgt. Seine

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