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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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jedenfalls der Dekan.
    Das Gemurmel wurde lauter. Verlangte er – ein Vertreter der Kriegstreiberclique – etwa von ihnen, vom Publikum, vom Volk, daß sie ihm einen der ihren auslieferten? Ihn verpfiffen, verpetzten, verrieten? Tom war wie vom Donner gerührt. Mit wachsender Wut betrachtete er Mardis Hinterkopf, ihre gescheitelten Haare, ihre geschwungenen Schultern. Aber nein. Darum ging es ja gar nicht. Der Eindringling hatte sich verletzt. Sein Ring hatte sich am Fenstergriff verhakt, als er zu Boden gesprungen war; und der Ring war, samt dem Finger, den er umschlossen hatte, von der Hand abgerissen worden. Ob die Zuschauer wohl gemeinsam nach dem Finger suchen würden, damit er wieder angenäht werden konnte?
    Das Gemurmel wurde zum Gebrüll. Jetzt waren alle auf den Beinen, und das Geräusch von allgemeinem Schlurfen und Ächzen, wie von einer gewaltigen Herde auf Wanderzug, erfüllte die Halle; Panik stand allen im Gesicht geschrieben. Irgendwo hier, in einem Schoß oder einer Handtasche, oder zerquetscht unter irgendeinem Absatz, lag ein blutiger Finger, noch lebendes Fleisch: es reichte, um einen auf alle viere niedersinken und wie einen Hund jaulen zu lassen. Tom wurde übel, alle Freude und Erregung war von ihm gewichen wie die Luft aus einem Ballon. Überall erklang jetzt Stöhnen und Zähneknirschen. »Es besteht keinerlei Grund zur Panik!« schrie der Dekan ins Mikrofon, doch niemand schien ihn zu hören.
    Mardi war bei alledem reglos stehengeblieben, eine Stufe unter dem Heiligen der Wälder, und hatte die Menge aufmerksam beobachtet. Jetzt drehte sie sich zu ihm um, schüttelte mit einer reflexartigen Bewegung des Halses die Haare aus dem Gesicht, und da war er, der Finger. Er fiel, wie ein blasser Wurm, aus dem verfilzten Gewirr ihres Haars und landete neben ihr auf der Bank. »Da!« rief Tom und zeigte entsetzt und fasziniert zugleich auf den Sitz. »Da ist er!« Sie blickte hinunter. Und dann zu ihm. So etwas wie den Ausdruck auf ihrem Gesicht – sie war nicht erschrocken, angeekelt oder verängstigt, sie kreischte nicht auf oder hüpfte auf Zehenspitzen herum – hatte Tom noch nie zuvor gesehen. Oder doch: es war der Ausdruck eines Raubtiers. Sie war eine Katze, und dieses Stück Fleisch war etwas, das sie aus einem Nest oder einem hohlen Baumstamm gerissen hatte. Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, bis sie ihn inmitten des Wirrwarrs, dem Geheul und den beklommenen Ausbrüchen von Lachen, von denen die Halle dröhnte wie der Saal des Jüngsten Gerichts, geradezu anstrahlte. »Wir können sonst nicht mit dem Konzert anfangen«, brüllte der Dekan, aber Mardi achtete nicht darauf. Immer noch strahlend, sah sie ihm weiter in die Augen, beugte fast unmerklich den Oberkörper und schnippte den Finger in den schattendunklen Schlund der Tribüne hinab.

DAS VERMÄCHTNIS
    Walter kam es vor, als erwachte er aus einem langen Schlaf, als wären die letzten zwanzig Jahre Illusion gewesen und das andere – die Träume und Visionen, die Geschichte in ihrer Hartnäckigkeit – die Realität. Er konnte sich über nichts mehr sicher sein. Sämtliche empirischen Untermauerungen des Weltgerüsts – das Boyle-Marriottesche Gesetz, Newtons Physik, die Evolutions- und Vererbungslehre, das Fernsehen, die Schwerkraft, Rousseaus contrat social, merde – alles war auf einmal zweifelhaft geworden. Seine Großmutter hatte eben doch recht gehabt. Seine Großmutter – die Frau des Fischers, mit den auf die Knöchel herabgerutschten Strümpfen und der flaumbärtigen Oberlippe, die sich in unaufhörlichen Beschwörungen hob und senkte – hatte die Welt besser durchschaut als alle Philosophen und Präsidenten, Pharmazeuten und Werbeleute. Sie hatte hinter den Schleier der Maja geblickt – die Welt als das erkannt, was sie war: ein grusliger Ort, wo alles passieren konnte und nichts so war, wie es schien, wo die Schatten scharfe Zähne hatten und die Verdammnis im Blut brodelte. Walter fühlte sich, als könnte er jederzeit ins All entschweben, explodieren wie eine Süßkartoffel, die zu lange im Ofen lag, Haare auf den Handflächen bekommen oder sich in Weincreme verwandeln. Warum nicht? Wenn es Erscheinungen gab, Schatten auf dunklen Landstraßen, sprechende Stimmen in der bodenlosen Nacht, warum dann nicht auch Kobolde und Klabautermänner, Gott, den Nikolaus, Ufos und pukwidjinnies dazu?
    Er kam an einem sonnenheißen Morgen im August aus dem Krankenhaus, und das erste, was er tat – ehe er noch ein

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