Worldshaker
sicherlich nicht so schlimm, wie es aussieht.«
»Schlimmer. Rauch, Hitze und Lärm sind noch gar nichts. Es ist so gefährlich, dass du dir das gar nicht vorstellen kannst. Wenn du Unten nicht schnell bist, bist du tot. Aber ich würd lieber Unten tot sein, als hier oben so’n halbes Leben als Gesindling zu haben.« In ihrer Stimme schwang eine Art mutwilliger Stolz mit. »Unten bin ich eine Anführerin.«
»Anführerin? Dreckige brauchen keine Anführer.«
»Doch, und ich bin eine. Ich bin in unserem Revolutionsrat.«
Das Wort Revolution versetzte Col einen leichten Schock. »Nein!«
»Doch. Wir haben Pläne. Wir haben nicht vor, ewig da unten zu bleiben.«
»Du prahlst ja nur.«
»Wenn du meinst.« Sie grinste. »Also, bereit?«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern sprang zur Versorgungsschütte. Col schüttelte den Kopf und konzentrierte sich aufs Nächstliegende. Riff hatte schon begonnen, einen der Riegel zu lösen.
Er eilte zu ihr und hockte sich ihr gegenüber hin. Er schob den nächsten Riegel weg und sie den dritten. Es war keine Zeit, nach den Dienstleuten zu sehen.
Er schob den letzten Riegel zur Seite. Dann griffen sie gemeinsam den Deckel und klappten ihn nach oben. Es war schwer, aber machbar.
Darunter war die Schütte selbst: ein breites Rohr, das in einer steilen Krümmung hinabführte. Seine Innenflächen glänzten silbern und warfen einen schwachen Widerschein der roten Glut von Unten zurück. Riff ließ den Deckel los und drehte sich zu Col.
»Jetzt heißt es also Abschied nehmen«, sagte sie. »Hierfür hast du was gut bei mir.«
Col musste das ganze Gewicht des Deckels halten. »Ich werde dich niemals wiedersehen.«
»Wer weiß? Vielleicht wirst du einmal meine Hilfe brauchen.«
Col sagte nichts. Geh einfach, dachte er.
»Du bist schon in Ordnung. Col-bert Porping-tine«, sagte sie, zog seinen Kopf mit ihren dünnen sehnigen Armen zu sich hinab und küsste ihn auf den Mund.
Es war so undenkbar, dass er zu denken aufhörte. Er konnte seine Arme nicht frei machen, um sie wegzustoßen. Hilflos fühlte er ihre Lippen auf den seinen. Es war, als ob die ganze Welt nur noch aus dieser einen schockierenden Berührung bestand – warm, feucht, weich …
Dann war es vorbei, und sie grinste ihn frech an.
»Das heißt jetzt aber nicht, dass wir zusammen sind oder so was«, sagte sie.
Sie trat an die Schütte heran, legte ihre Arme eng an den Körper und Wusch! fuhr sie hinab.
Es ging alles so schnell, dass es in seinem Kopf eins wurde. Sein Mund spürte noch ihre Berührung, da sahen seine Augen schon, wie ihre Haare in die Höhe flogen und in der Schütte verschwanden. Weg!
Benommen stand er da und starrte vor sich hin.
Aber nicht lange. Jeden Augenblick konnte jemand auftauchen. Er klappte den Deckel zu und schob die Riegel wieder vor. Sein Handeln schien ihm ganz fern, als ob jemand anders es täte.
Dann eilte er zurück in den Schatten und hielt einen Augenblick inne, um über das Geschehene nachzudenken. Ein Kuss von einer Dreckigen! Er ließ seine Zunge langsam über seine Lippen gleiten. Schmeckte das nach irgendwas? Dreck? Schweiß? Schmiere? Es musste einfach ekelhaft schmecken, das wusste er.
Dieser Kuss war völlig anders als die Küsse, die Mütter auf dem Oberdeck ihren Babys gaben, oder als die Wangenküsse, die Frauen anderen Familienmitgliedern verpassten. Die waren eigentlich das Gleiche wie das Händeschütteln bei den Männern. Niemand auf den Oberdecks küsste so wie Riff. Was hatte das zu bedeuten? Warum hatte sie das getan?
Er rieb sich mit dem Handrücken über den Mund. Nein, er würde es mit Wasser abwaschen müssen. Aber wo? Es würde ewig dauern, zu seinem eigenen Zimmer auf Deck 42 zurückzukehren. Ob es vielleicht irgendwo auf dem Unterdeck einen Wasserhahn gab?
Er machte sich unverzüglich auf den Weg zur Stahltür. Er musste den Geschmack loswerden, bevor er einen bleibenden Eindruck hinterlassen konnte …
13
Die Rückkehr in sein eigenes richtiges Leben fühlte sich so an, als käme er aus einem seltsamen, dunklen Tunnel. Col gelobte, nie wieder etwas Falsches oder Verbotenes zu tun. Jetzt konnte er sich auf den Schulanfang am Montag freuen.
Bis dahin war sein Wochenende mit allerlei gesellschaftlichen Verpflichtungen ausgefüllt. Am Samstagmorgen sollte er den Damen aus dem Feinstick-Club seiner Mutter vorgestellt werden, der sich in einem Raum der Familie Postlefrith auf Deck 40 traf. Zwölf Damen waren da, jede begleitet von einem
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