Worldshaker
etwas hinunterzuschlucken, das ihm Schmerzen bereitete.
»Mein Verstand sagte mir, dass die Dreckigen nicht wie wir sind. Nicht empfänglich für Schmerzen und Leid wie wir. Aber ich habe etwas für sie empfunden. Ich konnte nicht anders. Ich konnte es nicht ertragen, ihnen zuzusehen. Ich rannte einfach davon. Brabbelte verrückte Sachen, ich war hysterisch … ach, die Schande, Colbert! Die Schande!«
Jetzt schämte Col sich auch für ihn. Er war neugierig gewesen, aber nun wünschte er sich, sein Vater hätte sein Geheimnis für sich behalten.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Es tut mir leid, dass ich deinen Platz einnehme.«
»Aber nein, das muss dir nicht leidtun!« Orris sprach mit einer plötzlichen Heftigkeit. »Ich möchte nicht, dass es dir leidtut. Ich möchte, dass du dich in deinem Erfolg sonnst. Sei stolz auf deine Charakterstärke. Sei froh, dass du nicht dieselbe Herzensschwäche hast wie ich. Du darfst nicht die gleichen Fehler machen wie ich.«
Unter dem düsteren Froschblick seines Vaters wusste Col nichts anderes zu sagen als vorhin im Northumberland-Salon. »Ich werde meiner Familie und der Königin dienen, Sir.«
Das schien Orris zu beruhigen. »An dir haftet kein morbider Makel. Du bist der Beweis, dass es nur eine Verirrung war. Was immer auch mit mir gewesen sein mag, in meinem Sohn kommt das Blut der Porpentines wieder rein zur Geltung.«
Wortlos stiegen sie zu Deck 53 hinauf. Jetzt wusste Col also, was mit Orris Porpentine nicht stimmte, warum die Aura des Versagens ihn wie ein übler Geruch begleitete. Col tat einen Schwur: Er würde seinen Vater ehren, wie es ihm die Pflicht des Sohnes gebot. Aber ansonsten würde er alles so anders machen als sein Vater wie nur irgend möglich. Col schwor sich, dass ihn diese Aura nie umgeben würde.
Die letzte Treppe führte zu einer Stahltür, vor der ein Fähnrich mit einem Gewehr Wache stand. Col schluckte. Er hatte bislang nur Bilder von Gewehren gesehen.
»Master Porpentine«, sagte Orris, der hinter ihm stehen geblieben war. »Er wird von Sir Mormus erwartet.«
Der Fähnrich nahm Haltung an, drehte einen Türknauf und stieß die Tür auf.
»Zur Brücke geht’s da entlang, Colbert.« Und leise fügte Orris hinzu: »Du wirst das Richtige tun, das weiß ich.«
»Kommst du nicht mit?«
»Nein, ich nicht. Aber geh du jetzt rein.«
Col konnte das traurige, hoffnungsvolle Lächeln seines Vaters kaum ertragen. Schnell ging er hinein zu seinem Großvater.
06
Die Brücke war ein Hexenkessel organisierter Geschäftigkeit: Dreißig Offiziere, oder mehr, betätigten dort irgendwelche Schalter und Hebel, drehten an Rädern und bellten Befehle in die Sprechrohre. Da standen reihenweise Steuerungsgeräte – quadratische Kästen aus dunklem, auf Hochglanz poliertem Holz, mit gläsernen Messanzeigen und glänzenden Messingbeschlägen –, Schiffsglocken erklangen, Summer ertönten, und Anweisungen wurden ausgerufen.
Col stand an der Tür und sah, dass der Boden stufenweise anstieg, bis hin zu einer leicht gewölbten Front aus Glasfenstern an der Stirnseite. Sir Mormus Porpentine thronte in einem kunstvoll geschnitzten Holzstuhl auf dem Podest. Durch die Fenster sah man blauen Himmel und weiße Wolken, viel blauer und weißer als auf irgendeinem Bild.
Ein ranghoher Offizier bemerkte Col und sagte es dem Oberbefehlshaber ins Ohr.
»Kurs halten auf die Palk Straße«, donnerte Sir Mormus.
Er erhob sich von seinem Stuhl und ging auf Col zu. »Nun, mein Junge, was hältst du von der Brücke?«
»Ganz erstaunlich, Sir. So viele Schalter und Hebel.«
Sir Mormus nickte. »Jeder Offizier kennt seine Aufgabe. Wenn irgendjemand zum falschen Zeitpunkt das Falsche täte, wären die Folgen katastrophal.« Er zeigte auf eine Batterie von Messanzeigen, die von drei Offizieren überwacht wurde. »Ohne diese Offiziere, zum Beispiel, würden unsere Achsen infolge mangelnder Schmierung zu heiß werden, und die Turbinen würden sich festfressen.« Dann zeigte er auf fünf andere Offiziere, die eine Reihe von Hebeln betätigten. »Und würden die Offiziere da den Dampfdruck in unseren Kesseln nicht kontrollieren, dann würden die Boiler explodieren und uns alle in die Luft jagen. Das ist ein haargenau austariertes System, mein Junge.«
»Und Sie wissen, wofür jeder Kontrollhebel da ist, Sir?«
»Und ob. Ich habe schließlich die Befehlsgewalt über alle Kontrollhebel.« Dabei berührte er die Amtsschlüssel an der Goldkette, die an seinem Hals hing, und mit
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