Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus
dadurch, dass der Dichter sein 1858 abgeschlossenes Stück »Die Helden auf Helgeland«, unter dem Titel »Nordische Meerfahrt« bekannt geworden, dem Kristiania- und nicht dem Norwegischen Theater anbot. Diese Adaption des Nibelungenstoffes stieß zunächst auf Gleichgültigkeit, entwickelte sich dann aber im Lauf der nächsten Jahrzehnte zu dem in der Hauptstadt am häufigsten aufgeführten Ibsen-Stück. Vorher jedoch, in den Jahren einer künstlerischen Identitätskrise, nahm Ibsens finanzielle Situation schlimmste Formen an: Das Norwegische Theater musste in der Saison 1862/63 Konkurs anmelden; er selbst fiel Kredithaien in die Hände.
›Wer sich ein Heim geschaffen hat in den vielen Ländern draußen, der fühlt sich in der Tiefe seines Innern nirgends zu Hause – vielleicht nicht einmal im eigenen Vaterland.‹
Henrik Ibsen
Umso willkommener war der schmale Lichtstreif, der sich plötzlich am Horizont abzeichnete, denn Ibsen erhielt ein Universitätsstipendium für eine Studienreise, um Sagen, Märchen und Volkstraditionen aufzuzeichnen. Auf ausgedehnten Fußwanderungen lernte er Landschaften und ihre Mythen kennen, die bald seinem eigenen Schaffen thematische Impulse vermitteln sollten. Die enormen materiellen Sorgen konnte indes auch das besagte Stipendium nicht beheben. Wenigstens erfuhr Ibsen nach einer langen Durststrecke wieder eine künstlerische Anerkennung: Bei einem Sängerfest in Bergen, das als große nationale Kundgebung veranstaltet war, huldigte ihm die Menge. Der Gefeierte schöpfte Mut. Ein zweites Universitätsstipendium nahm er deshalb nicht mehr für eine geplante Nordlandreise, sondern für die Arbeit an einem Stück mit dem Titel »Die Kronprätendenten«, einem historischen Schauspiel; es gilt allgemein als das überzeugendste geschichtliche Drama aus seiner Hand, das bei der Aufführung 1864 auch große Anerkennung beim Publikum fand.
GRIEGS MUSIKALISCHE UNTERMALUNG DES DRAMAS »PEER GYNT«
Anfang des Jahres 1874 bat Ibsen seinen Landsmann, den Komponisten Edvard Grieg, um eine Bühnenmusik zu seinem Drama »Peer Gynt«. Bereits 1875 war die aus 22 in die Handlung integrierten Einzelstücken bestehende Komposition beendet (hier das von Edvard Munch gestaltete Plakat für die Aufführung in Paris 1896) und schon bald so geschätzt, dass der Komponist 1888 und 1892 daraus zwei Orchestersuiten zusammenstellte. Diese enthalten vorwiegend die lyrischen und tänzerischen Teile der Schauspielmusik wie »Morgenstimmung«, »Ases Tod«, »Anitras Tanz«, »Peer Gynts Heimkehr« und »Solveigs Lied«; die (melo)dramatischen Teile mit Solo- oder Chorgesang – etwa die wild-lüsterne Szene mit den drei Säterinnen oder die schaurige Verfolgung Peer Gynts durch die Trolle – blieben hier allerdings ausgeklammert. Gerade diese aber enthüllen die dämonische Wucht des Dramas und charakterisieren das Schicksal des ruhelos durch die Welt ziehenden Antihelden, der erst am Ende zur treu liebenden Solveig zurückfindet.
IM GELOBTEN LAND ITALIEN
Im April 1864 verließ Ibsen Norwegen. Auch politische Gründe dürften bei diesem Entschluss mitgewirkt haben: Zwischen Dänemark und Preußen war Krieg ausgebrochen und Norwegen verweigerte dem Nachbarn die Hilfe. Der von der Einheit Skandinaviens träumende Dichter war bitter enttäuscht. Da Kollegen für ihn inzwischen eine größere Geldsumme gesammelt hatten, ergriff er die Chance, nach Italien zu reisen. Abgesehen von kurzen Aufenthalten, blieb er von da an für 27 Jahre der Heimat fern.
In Italien zeigte er sich überwältigt von der Kunst, vor allem vom Mailänder Dom und den Werken Michelangelos und Berninis. Von Rom aus zogen er und seine Familie mit skandinavischen Freunden in das kleine Bergdorf Genzano. Damals gewann Ibsens episches Gedicht »Brand« erste Konturen. Die endgültige Fassung entstand in einem wahren Schaffensrausch innerhalb von drei Monaten im Spätsommer 1865 in dem kleinen Ort und Künstlertreffpunkt Ariccia. »Brand« avancierte zu Ibsens erstem Meisterwerk. Der kompromisslose, in moralischen Dingen unerbittliche Titelheld scheitert letztendlich und findet unter einer Lawine den Tod – ein bezeichnendes Ende eines dem Extrem geweihten Lebens. Mit diesem zunächst als Lesedrama geschriebenen Stück schaffte Ibsen den Durchbruch, in Dänemark und Norwegen wurde es leidenschaftlich diskutiert. Es war das erste Werk Ibsens, das ins Deutsche übersetzt wurde. Später folgten in Kristiania und anderswo zahlreiche
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