Worte bewegen die Welt
aufgeführten, im Wettbewerb preisgekrönten Tragödie »Hippolytos« zeigt Euripides erstmals die ausweglose Liebesleidenschaft einer Frau. Die Göttin der Liebe, Aphrodite, ist zutiefst gekränkt, weil Hippolytos, der Verehrer der jungfräulichen Göttin Artemis, ihr in seiner Keuschheit die Verehrung verweigert. Daher lässt sie Phädra, die Frau des Königs Theseus, unrettbar der Liebe zu ihrem Stiefsohn Hippolytos verfallen, um diesen am Ende zusammen mit Phädra zu vernichten. Diese schildert ihre körperlichen und seelischen Qualen; durch die selbstgefällige Moral des Hippolytos wird sie in den Selbstmord und zu unwahren Anschuldigungen gegen ihren Stiefsohn getrieben. Diese wiederum bewegen Theseus zu einem todbringenden Fluch über seinen Sohn. Der Racheplan der Aphrodite geht in Erfüllung; Artemis prophezeit dem Jüngling jedoch nach seinem Tode göttliche Ehren durch alle Jungfrauen.
In der »Hekabe« erfährt die greise Königin als Gefangene der Griechen vom Tod ihres Sohnes Polydoros und muss die Opferung ihrer Tochter Polyxena erleben; in der »Andromache« ist die ehemalige Frau des Hektor als Beutefrau des Neoptolemos in Griechenland neuen Gefahren ausgesetzt. In den »Troerinnen« (415 v. Chr.) hören wir gar die Klagen von drei Frauen über das Leid, das durch den Krieg über sie hereinbrach: Hekabe hat ihren Gatten Priamos, die Königsherrschaft und alle Söhne verloren; ihre und des Priamos’ Tochter, die Seherin Kassandra, fällt Agamemnon als Bettgenossin zu; besonders hart trifft es Andromache, die nach dem Verlust ihres Gatten Hektor Sklavin des Neoptolemos wird; dessen Vater Achilleus hatte Hektor erschlagen; Andromache muss auch ihren kleinen Sohn Astyanax hergeben, den die Griechen vom Turm stürzen werden, um des Priamos’ Haus ganz auszulöschen.
Ganz anders erscheinen die Frauen in Euripides’ letztem Stück, den »Bakchen«, die, von der Macht des Gottes Dionysos besessen, einerseits in inniger Eintracht mit der Natur leben, andererseits aber vor blutigem Mord nicht zurückschrecken. In dionysischer Verzückung tötet Agaue ihren Sohn Pentheus, den König von Theben.
DIE GÖTTER
Bei Euripides können die Götter einerseits wie Aphrodite und Artemis im »Hippolytos« und Dionysos in den »Bakchen« unerbittlich grausame Mächte, andererseits aber auch geschickte Arrangeure sein, so, wenn sie als »Deus ex Machina« (Gott aus der Maschine) auftreten: In vielen Stücken bringt das überraschende Erscheinen von Göttern hoch über den Schauspielern – der Sprecher schwebte am Arm eines Krans, daher »Deus ex Machina« – die unerwartete Lösung.
Die positive Sicht der Götter kommt eher als Postulat zu Wort: Im »Hippolytos« bittet ein Diener Aphrodite um Nachsicht gegenüber dem jungen Mann, der ganz der Artemis gehören will. Diese Bitte begründet er mit der Forderung: »Die Götter müssen weiser sein als die Menschen!«, ein Argument, das Aphrodite aber nicht von ihrer Rache abbringt. Im ersten Teil des »Herakles« laufen in Abwesenheit des Helden seine Frau und seine Kinder Gefahr, von einem Thronräuber in Theben getötet zu werden; im letzten Moment kommt Herakles und befreit sie, und der Chor bejubelt den Sieg des Rechts und das von den Göttern kommende vergeltende Geschick. Doch gleich darauf erscheinen im Auftrag Heras die Götterbotin Iris und Lyssa, die Göttin des Wahnsinns, denn Hera will sich an Herakles rächen, der ja aus der Liebschaft des Zeus mit Alkmene entstanden ist; obwohl gerade Lyssa auf die Verdienste des Herakles gegenüber den Göttern hinweist, muss sie sich Heras Willen fügen und bringt den Helden dazu, seine Frau und seine Kinder im Wahnsinn zu erschlagen.
EURIPIDES UND DAS LOS DER GEFANGENEN
Die Breitenwirkung, die Euripides mit seinen Werken erzielte, illustriert folgende Anekdote: Nach dem Scheitern der Sizilischen Expedition der Athener 413 v. Chr. konnten gefangene Athener ihr Los dadurch verbessern, dass sie die sizilischen Griechen Euripides-Verse lehrten, so berichtet Plutarch. Bei den Gefangenen muss es sich um einfache athenische Bürger gehandelt haben, wie sie zu vielen Tausenden für die Expedition rekrutiert worden waren.
Mit seinen widersprüchlichen Darstellungen vom Wesen der Götter hat Euripides wichtige Fragen seiner Zeit literarisch verarbeitet. Wenngleich er keine Lösung dafür anbieten konnte, verdeutlichte er diese Fragestellungen doch seinem Publikum und übertrug sie bis in die Gegenwart.
DAS MENSCHENBILD
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