Worte bewegen die Welt
die politischen Inhalte von Walthers Texten bewirkten eine intensive Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, häufig verbunden mit einer – nur noch dem »Nibelungenlied« vergleichbaren – ideologischen Vereinnahmung. So diente etwa Walthers »Preislied«, aus der Situation des 19. Jahrhunderts heraus verstanden, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben als Anregung für das »Deutschlandlied«.
Allerdings steht im »Preislied« nicht die deutsche Nation, sondern die deutsche Frau im Vordergrund, die Gegenstand des Minnesangs war: »… Ich will von deutschen Frauen singen, sodass sie allen Leuten umso besser gefallen mögen … Von der Elbe bis an den Rhein und hierher zurück bis an Ungarns Grenze, da leben gewiss die Besten, die ich in der Welt kennen gelernt habe. Verstehe ich mich auf Schönheit und vollendetes Benehmen so mir Gott helfe, ich wollte wohl schwören, dass die Frauen hier, besser sind als anderswo.
Deutsche Männer sind wohlgebildet, die Frauen sind wie Engel. Wer sie schmäht, geht in die Irre; anders kann ich dies nicht begreifen. Wer nach hohem Sinn und keuscher Liebe sucht, der komme in unser Land, wo viel Lust und Wonne sind. Ich möchte noch lange darin leben! …«
Warum die drei Sammelhandschriften keine Melodien enthalten, muss Spekulation bleiben. In den Handschriften M und N finden sich die kaum deutbaren, linienlosen Neumennotationen von vier Liedern, in der Handschrift Z Melodiebruchstücke zu drei Liedern. Neumen wurden vor der Erfindung der Notenschrift im Mittelalter als übliche Notenhilfszeichen verwandt. Nur für das »Palästinalied« ist die Melodie vollständig überliefert, durch die Meistersinger schließlich noch die Melodien zu Walther von der Vogelweides »Wiener Hofton« und zum »Ottonenton«.
›Die rechtschaffenen geistlichen Fürsten warne der Kaiser, dass sie nicht auf die unaufrichtigen hören, die das Reich zu verunsichern hoffen. Er trenne sie von jenen oder entferne sie alle aus den Kirchen.‹
Walther von der Vogelweide
SANGSPRUCH UND LIED
In der deutschsprachigen Dichtung des Mittelalters wurden hauptsächlich zwei lyrische Gattungen gepflegt: das gesungene Lied (Minnelied, Leich) und die Spruchdichtung (Sprechspruch, Sangspruch), die beide auf ein vornehmlich höfisches Publikum abzielten. Während die Lieddichtung durch romanische Vorbilder oder durch Formen der lateinischsprachigengeistlichen Dichtung geprägt wurde, setzte die Spruchdichtung eine einheimische, hauptsächlich mündliche Tradition fort. Walther von der Vogelweide ist der erste deutsche Dichter, der das höfische Minnelied, das religiöse Lied und den Sangspruch gleichzeitig kultivierte, während seine Dichterkollegen sich üblicherweise auf eine der Gattungen beschränkten. Dabei sind die Grenzen zwischen Lied und Sangspruch fließend, zumal diese Gattungsbegriffe erst im 19. Jahrhundert entstanden. Walther von der Vogelweide schuf eine höfische Form der Spruchdichtung, indem er deren Strophenform nach dem Vorbild der Minnelieder gestaltete und inhaltliche Bestandteile der Spruchdichtung in seine Minnelieder integrierte. Dadurch wertete er, beabsichtigt oder nicht, die Sangspruchdichtung auf und bereicherte das Minnelied um Themen, die bislang der Sangspruchdichtung vorbehalten gewesen waren.
DIE SPRUCHDICHTUNG
Der Begriff »Spruchdichtung« wurde von dem Germanisten Karl Simrock in seiner Ausgabe der Werke Walthers von der Vogelweide 1833 für mittelhochdeutsche Lieder und Gedichte eingeführt, die sich thematisch, teilweise auch formal vom Minnesang unterscheiden.
Der Sprechspruch ist meist in vierhebigen Reimpaaren ohne Stropheneinteilung verfasst und durch eine lehrhaft-moralisierende Tendenz geprägt. Er vermittelt oft eine zugespitzte, sprichwörtliche Weisheit. Im Gegensatz zum Lied ist ein Sangspruch meistens einstrophig; dafür neigt er zu längeren Versen und größeren Strophen. Während jedes Lied eine eigene Strophenform verlangte, wurden Sangspruchstrophen von den Dichtern mehrfach benutzt. Da die Strophen nach einer Melodie gesungen wurden, besaßen sie den gleichen metrischen Bau. Die Gesamtheit aller metrisch gleich gebauten Strophen bildete einen Ton (»dôn«). Wurde ein Ton von einem Dichter öfter verwandt, erhielt er einen Namen.
Walther von der Vogelweides umfangreichster Ton ist der »König-Friedrichs-Ton«, in dem er etwa 20 Sangspruchstrophen gedichtet hat. Einzelstrophen nicht mitgezählt, hat Walther von der Vogelweide insgesamt 13 Töne
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