Worte bewegen die Welt
christlichmittelalterlich inspirierten Vorstellungen, aber vor allen Dingen nach denen des antiken Mathematikers, Astronomen und Geographen Ptolemäus, angeordnet: Die Erde ist der Mittelpunkt der Welt. Um sie herum bewegen sich neun Himmelssphären. Der neunte Himmel, der Kristallhimmel, wird durch den Lichthimmel, das Empyreum, den Sitz des unbewegten Bewegers, bewegt und gibt diese Bewegung an die unteren Sphären weiter. Dagegen liegen die trichterförmige Hölle im Innern der nördlichen Erdhalbkugel und der Läuterungsberg, Erdaushub gewissermaßen, den Luzifers Fall bewirkte, auf der südlichen Erdhalbkugel; an seiner Spitze befindet sich das irdische Paradies. Auf der bevorstehenden Wanderung aber wird Vergil ihn nur durch Hölle und Läuterungsberg leiten können, denn die natürliche Christlichkeit der Seele des Römers konnte zwar nach mittelalterlicher Anschauung die Ankunft Christi vorhersehen, aber der Erlösung durch Gottes Sohn nicht mehr teilhaftig werden. Die Jenseitsreise setzt somit im zweiten Gesang der »Hölle« mit dem Abstieg in das Reich Luzifers ein, das in neun Ringe unterteilt ist. Je tiefer diese Ringe ins Erdinnere reichen, desto weniger erfüllt sie das metaphysische Licht Gottes, desto härter sind die Strafen derjenigen, auf die Dante in ihnen trifft: Laue und Liebende, Fresser, Unzüchtige, Geizige und Verschwender, Zornige, Träge, Ketzer, Wucherer, Vergewaltiger, Betrüger und Kuppler, Schmeichler, Heuchler, Fälscher und Verräter. Der Dichter hält Gericht über mythische und biblische Gestalten, rechnet gnadenlos mit seinen politischen Feinden, mit den Gegnern seiner Überzeugungen ab. Aber er ist selbst betroffen, nur die Verheißung der unmittelbaren Schau Gottes lässt ihn die Schauerlichkeiten der Unterwelt ertragen.
ZEUGNISSE DES EXILS: DIE BRIEFE
Von den vermutlich zahlreichen Briefen, die Dante geschrieben hat, sind nur 13 erhalten, wahrscheinlich aus den Jahren 1304 bis 1317. Sie sind im Stil geistlicher und weltlicher Kanzleien verfasst, bilderreich mit antiken und biblischen Stoffen argumentierend. Doch bei aller Strenge und Kunstfertigkeit ihrer Komposition geben sie auch einigen Aufschluss über die innere Entwicklung des Dichters in den Jahren seines Exils, über das er sich in immer neuen Wendungen beklagt. Neben Auftragsschreiben, die er als Sekretär der Gräfin Gherardesca di Battifolle verfasste, finden sich unter den Briefen solche persönlichen, politischen und lehrhaften Inhalts. So mischte Dante sich 1304 noch einmal in die florentinische Politik ein, gab 1310/11 seiner hohen Erwartung an Heinrich VII. Ausdruck, beschwor 1314 in prophetischem Ton die zum Konklave versammelten Kardinäle, die Spaltung der Kirche rückgängig zu machen, und wendete sich 1315 im Bewusstsein seiner individuellen Einmaligkeit herrisch, stolz und voller Empörung gegen den Beschluss des Rates von Florenz, seine Verbannung gegen demütigende Auflagen aufzuheben.
An Luzifer vorbei gelangt er aus ihr gemeinsam mit Vergil in langem Aufstieg an den Fuß des Läuterungsberges, der ebenfalls neunfach gegliedert ist, wenn man Vorpurgatorium und das an seiner Spitze befindliche irdische Paradies mitrechnet. Nach dem gleichen metaphysisch begründeten Rechtssystem der wechselseitigen Entsprechung von Schuld und Sühne, von begangener Sünde und auferlegter Bestrafung, das in der Hölle wirksam ist, finden sich hier die Schattenleiber der Verstorbenen angeordnet, am Ende jene, die unmittelbar an der Paradiesespforte stehen. Unter ihnen sind einige Herrscher und Mächtige, die Dante zum Teil selbst gekannt hat, aber auch manche Zunftgenossen und Freunde wie die Dichter Sordello, Arnaut Daniel und Guido Guinizelli, gleich zu Beginn der Liedersänger Casella. Im hoffenden Wissen um ihre Erlösung büßen sie für Stolz und Trägheit, für Neid, Wollust und Gefräßigkeit, und manchmal schließt Dante sich ihren Bußübungen an. Der antike Dichter Statius gesellt sich im 20. Gesang den beiden Wanderern zu. Als zehn Gesänge später Beatrice erscheint, verschwindet Vergil zu Dantes Trauer endgültig. Nur der Christ Statius darf Dante zu Beatrice begleiten, die ihn nach seiner Reue selbst in den Himmel geleiten wird.
Anders als die grauenhafte »Hölle«, jenes dunkle Szenario ewiger Leiden und Qualen, ist der »Läuterungsberg« lichter und landschaftlich reizvoll, das Universum selbst scheint hoffnungsfroh gestimmt. Gleichwohl ist dieser Gesang lehrhafter als der erste: Man findet
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