Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
Bei diesem Gedanken steigt Wut in mir hoch, Wut auf die Schafe, die auf einem unbebauten Gelände am Straßenrand zufrieden grasen, und auf den Fotografen, der aus dem Wagen heraus Bilder schießt. Das Klicken ist zu laut. Und es sind zu viele Schafe. Aber Fotos zu machen ist der Beruf des Fotografen, ebenso wie das Grasen der Beruf der Schafe ist. Eigentlich habe ich kein Recht, mich zu beschweren. Trotzdem nervt mich das alles unermesslich. Auf meiner Haut bilden sich weiße Bläschen. Von der Hitze. Das wird allmählich absurd. Wieso ist es hier nur so verdammt heiß?
Ich ziehe an Kilometer 40 vorbei.
»Nur noch zwei Kilometer. Durchhalten!«, ruft der Redakteur mir aufgeräumt aus dem Wagen zu. »Du hast leicht reden«, würde ich gern zurückschreien, aber ich denke es nur. Die nackte Sonne knallt. Es ist gerade mal neun Uhr, und es herrscht grimmige Hitze. Schweiß läuft mir in die Augen. Das Salz brennt, und ich kann einen Moment lang nichts sehen. Ich will den Schweiß mit der Hand wegwischen, aber auch meine Hände und mein Gesicht sind voller Salz. Nun brennen meine Augen noch mehr.
Hinter den hohen Sommergräsern kommt ganz klein das Ziel in Sicht, das Denkmal am Ortseingang von Marathon. So unvermittelt taucht es auf, dass ich zuerst nicht sicher bin, ob es wirklich das Ziel ist, es erscheint mir zu abrupt. Natürlich bin ich froh, die Ziellinie zu sehen, aber diese Plötzlichkeit ärgert mich irgendwie. Zum Schluss will ich noch mal mit letzter Kraft einen Spurt einlegen, aber meine Beine gehorchen mir nicht. Ich habe vergessen, wie ich meinen Körper bewegen muss. Es fühlt sich an, als hätte man meine sämtlichen Muskeln mit einem rostigen Hobel bearbeitet.
Das Ziel.
Endlich habe ich es erreicht. Ich habe kein Gefühl von Erfolg. In meinem Kopf herrscht nur Erleichterung: Ich muss nicht mehr laufen. An einer Tankstelle frage ich, ob ich ihren Wasserschlauch benutzen darf, um meinen überhitzten Körper zu kühlen und mir das Salz herunterzuwaschen, mit dem mein ganzer Körper überzogen ist. Eine menschliche Saline oder so etwas. Der Tankwart, der von allem erfahren hat, schneidet ein paar Topfblumen ab und überreicht mir einen Strauß. »Gut gemacht. Herzlichen Glückwunsch.« Die Liebenswürdigkeit der Menschen dieses fremden Landes geht mir sehr zu Herzen. Marathon ist ein freundlicher, kleiner Ort. Ruhig und friedlich. Man kann sich nur schwer die grausame Schlacht vorstellen, in der die Griechen hier die anstürmenden Perser zurückschlugen, aber das war ja auch vor über zweitausend Jahren. In einem Café stärke ich mich nach Herzenslust an kaltem Amstel-Bier. Es ist natürlich köstlich, aber nicht ganz so köstlich, wie es in meiner Fantasie beim Laufen war. In der Realität existiert nichts, das der Vorstellung eines Menschen gleichkommt, der den Verstand verloren hat.
Ich habe 3 Stunden und 51 Minuten von Athen nach Marathon gebraucht. Nicht gerade eine Traumzeit, aber immerhin bin ich einen Marathon gelaufen. Begleitet nur von höllischem Verkehr, unvorstellbarer Hitze und meinem brennenden Durst. Eigentlich könnte ich stolz sein. Aber im Augenblick ist mir das egal. Das Schönste ist, dass ich keinen Schritt mehr zu laufen brauche.
Dem Himmel sei Dank, ich muss nicht mehr laufen.
***
Das waren meine ersten (fast) 42 Kilometer. Und glücklicherweise auch die letzten, die ich unter so grausamen Bedingungen laufen musste. Im Dezember jenes Jahres nahm ich am Honolulu-Marathon teil. Auch in Hawaii ist es heiß, aber verglichen mit der Athener Hitze ist das gar nichts. Jedenfalls war Honolulu mein erster echter, offizieller Marathon. Seither laufe ich jedes Jahr einen Marathon.
Als ich meinen Artikel von damals wiederlas, wurde mir klar, dass ich nach über zwanzig Jahren und ebenso vielen Marathonläufen noch die gleichen psychischen Abläufe durchlebe. Bis Kilometer 30 bin ich zuversichtlich, eine gute Zeit laufen zu können. Nach Kilometer 35 jedoch geht meinem Körper der Sprit aus, und ich beginne, mich über alles zu ärgern. Am Ende fühle ich mich dann wie ein Auto mit leerem Tank. Aber nachdem ich es geschafft habe und etwas Zeit vergangen ist, vergesse ich das ganze Elend und die Schmerzen und plane schon, beim nächsten Mal eine bessere Zeit zu laufen. Ganz gleich, wie viel Erfahrung ich sammle und wie viel älter ich werde, letztlich wiederholt sich alles.
Ich glaube, bestimmte Abläufe lassen keine Änderungen zu. Wenn man Teil eines solchen Ablaufs sein muss, wird
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