Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
Trainingspraxis ist natürlich allen erfahrenen Läufern geläufig.
Während meines Aufenthalts in Japan ist mein neuer Erzählband Blinde Weide, schlafende Frau erschienen, und ich muss deshalb mehrere Interviews geben. Im November kommt ein Buch mit Musikkritiken heraus, und ich muss Fahnen lesen und mit der Herstellung den Umschlag besprechen. Hinzu kommen die Vorbereitungen für die Taschenbuchausgabe meiner Übersetzung von Raymond Carvers Gesammelten Werken . Hierfür möchte ich alle Übersetzungen noch einmal völlig überarbeiten, das braucht Zeit. Außerdem muss ich ein längeres Vorwort für die amerikanische Ausgabe von Blinde Weide, schlafende Frau schreiben, die im kommenden Jahr erscheint. Währenddessen arbeite ich ständig an diesem Text über das Laufen, obwohl mich eigentlich niemand direkt dazu aufgefordert hat. Wie ein stummer, emsiger Dorfschmied.
Daneben gibt es noch ein paar geschäftliche Angelegenheiten, um die ich mich kümmern muss. Als wir in den USA lebten, hat eine Dame, die als Assistentin in unserem Büro in Tokyo arbeitete, plötzlich ihre Kündigung eingereicht, da sie Anfang nächsten Jahres heiraten will, und ich muss mich nach Ersatz umsehen. Auch im Sommer kann ich das Büro nicht einfach schließen. Sobald ich wieder in Cambridge bin, muss ich einige Vorträge an der Universität halten, auf die ich mich vorbereiten muss.
Meine Zeit ist also knapp bemessen. Selbst zwei Personen könnten all diese Aufgaben kaum bewältigen. Daneben für den New York City Marathon zu trainieren ist nicht einfach. Aber komme, was wolle, ich laufe weiter. Das Laufen ist eine Art von Rettungsanker für mich, und ich werde nicht aussetzen, nur weil ich viel zu tun habe. Denn dann könnte ich wahrscheinlich nie mehr laufen. Ich habe nur wenige Gründe, weiter zu laufen, aber einen ganzen Lastwagen voller Gründe, damit aufzuhören. Was bleibt mir anderes übrig, als die wenigen Gründe, die dafür sprechen, zu hegen und zu pflegen.
Wenn ich in Tokyo bin, laufe ich für gewöhnlich durch den Jingu-gaien, den Äußeren Garten um den Meiji-Schrein, an den auch das Jingu-Stadion angegrenzt. Er ist kein Vergleich zum Central Park, aber einer der wenigen grünen Orte im Herzen Tokyos. Ich kenne diesen Weg seit Jahren und habe ihn mit all seinen Löchern und Hubbeln genau im Kopf. Damit ist er der ideale Trainingspfad, um meine Geschwindigkeit zu testen. Ein Problem ist der starke Verkehr; je nach Uhrzeit gibt es viele Fußgänger, und auch die Luft ist nicht sonderlich sauber. Aber da wir mitten in Tokyo sind, kann ich keinen Luxus verlangen. Ich muss mich glücklich schätzen, dass es in meiner Nähe überhaupt einen Ort gibt, an dem ich laufen kann. Eine Runde um den Jingu-gaien misst 1325 Meter. Mir gefällt, dass es alle hundert Meter Markierungen auf dem Boden gibt. Sooft ich einen Kilometer in einer festen Zeit laufen will – in 5½, 5 oder 4½ Minuten – nehme ich diesen Weg. Als ich mit dem Laufen anfing, war Toshihiko Seko noch aktiv und benutzte ebenfalls diesen Pfad. Er trainierte damals für die Olympischen Spiele in Los Angeles und hatte nichts Geringeres im Sinn als eine blanke Goldmedaille. Wegen des Boykotts hatte er nicht an den olympischen Spielen in Moskau teilnehmen können, und Los Angeles war vielleicht seine letzte Chance, eine Medaille zu gewinnen. Er strahlte eine heroische Entschlossenheit aus, die besonders deutlich erkennbar war, wenn man ihm beim Laufen in die Augen sah. Damals war Nakamura, der Trainer des S&B -Teams, noch am Leben und gesund. Die Mannschaft verfügte über eine ganze Reihe von vielversprechenden Spitzenläufern. Da auch das S&B -Team täglich auf dem Gaien-Pfad trainierte, kannte ich die meisten der Männer zumindest vom Sehen. Während ihres Trainings auf Okinawa habe ich sogar einmal einen Artikel über sie geschrieben.
Jeder lief morgens, bevor er zur Arbeit ging, ein paar Runden für sich; nachmittags trainierten sie dann im Team. Da ich früher immer vor sieben Uhr morgens (wenn der Verkehr noch nicht so stark und die Luft noch einigermaßen gut war) dort joggte, begegnete ich oft einzelnen Mitgliedern des Teams, und wir nickten einander zu. An Regentagen tauschten wir ein vielsagendes Lächeln: »Wir haben es nicht leicht, was?« Besonders gut erinnere ich mich an die jungen Läufer Taniguchi und Kanei. Beide waren Ende zwanzig, ehemalige Mitglieder des Laufteams der Waseda-Universität und hatten am Hakone-Staffetten-Marathon teilgenommen. Man
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