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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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als ihre Gesundheit zu versagen begann. Und auch, wenn es ungerecht sein mochte, so zu denken, und sie selbst wusste, dass es ungerecht war, konnte meine Großmutter nicht umhin, in dieser Krankheit, die lange Zeit nicht erkannt wurde und in so jungen Jahren selten auftrat, ein weiteres Beispiel für die Eigenwilligkeit meiner Mutter zu sehen, für das Erheischen von Beachtung.
    Die Ehe meiner Großeltern kannte ich nicht aus eigener Anschauung, aber ich hörte Berichte. Von meiner Mutter, die ebenso wenig für meine Großmutter übrig hatte wie meine Großmutter für sie, und dann, als ich älter wurde, auch von anderen Leuten, die keine Animositäten hatten. Nachbarn, die als Kinder auf ihrem Heimweg von der Schule vorbeigeschaut hatten, berichteten von den selbst gemachten Marshmallows meiner Großmutter, von ihren Neckereien und ihrem Gelächter, sagten aber, dass sie vor meinem Großvater immer ein wenig Angst gehabt hätten. Nicht, weil er übellaunig oder bösartig war – nur schweigsam. Man brachte ihm große Achtung entgegen – er war viele Jahre lang Mitglied des Stadtrats und bekannt als jemand, an den man sich wenden konnte, wenn man Hilfe beim Ausfüllen eines Formulars oder beim Schreiben eines Geschäftsbriefes oder Erläuterungen zu einer neuen Regierungsmaßnahme brauchte. Er war ein tüchtiger Farmer und ein ausgezeichneter Wirtschafter, aber das Ziel seines Wirtschaftens war nicht, mehr Geld zu verdienen – er wollte mehr Zeit zum Lesen haben. Seine Schweigsamkeit machte die Leute beklommen, und sie fanden, er sei kaum der richtige Umgang für eine Frau wie meine Großmutter. Es hieß, die beiden seien so verschieden, als kämen sie von den gegenüberliegenden Seiten des Mondes.
    Mein Vater, der in diesem Haus des Schweigens aufgewachsen war, sagte nie, dass er es irgend unbehaglich gefunden hatte. Auf einer Farm gibt es immer viel zu tun. Die jahreszeitlich anfallenden Arbeiten bestimmen – bestimmten jedenfalls damals – das Leben und meistens zugleich damit das Eheleben.
    Ihm war jedoch aufgefallen, dass seine Mutter ein völlig anderer Mensch wurde, in Fröhlichkeit ausbrach, wenn Gäste kamen.
    In der guten Stube befand sich eine Geige, und er war fast schon erwachsen, als er erfuhr, was sie da zu suchen hatte – dass sie seinem Vater gehörte und er darauf gespielt hatte.
    Meine Mutter sagte, ihr Schwiegervater sei ein feiner alter Herr gewesen, würdevoll und klug, und seine Schweigsamkeit wundere sie gar nicht, denn meine Großmutter habe ständig irgendeine Kleinigkeit an ihm auszusetzen gehabt.
     
    Hätte ich Tante Charlie geradeheraus gefragt, ob meine Großeltern unglücklich waren, hätte sie es nur wieder übel genommen. Ich fragte sie jedoch, wie mein Großvater eigentlich gewesen sei, außer schweigsam. Ich behauptete, mich nicht an ihn erinnern zu können.
    »Er war sehr klug. Und sehr gerecht. Aber man hat sich besser nicht mit ihm angelegt.«
    »Mutter hat gesagt, dass er Großmutter zur Verzweiflung getrieben hat.«
    »Ich weiß nicht, wo deine Mutter das her hat.«
     
    Wenn man das Familienfoto betrachtete, aufgenommen, als sie jung war und bevor ihre Schwester Marian starb, würde man sagen, dass meine Großmutter sich den Löwenanteil an Wohlgestalt in der Familie geschnappt hatte. Ihre Größe, ihre stolze Haltung, ihre herrlichen Haare. Sie lächelt für den Fotografen nicht nur – sie scheint sich sogar das Lachen zu verbeißen. Solche Vitalität, solches Selbstvertrauen. Die Haltung verlor sie nie, und von ihrer Größe auch nicht mehr als einen oder zwei Zentimeter. Aber zu der Zeit, an die ich mich erinnere (eine Zeit, wie ich schon gesagt habe, als beide ungefähr in dem Alter waren, in dem ich jetzt bin), da war Tante Charlie diejenige, von der die Leute sagten, sie sei eine so reizend aussehende alte Dame. Sie hatte Augen von klarem Blau, dem Blau der Wegwarte, ihre Bewegungen waren anmutig, und sie neigte zierlich den Kopf.
Gewinnend
ist wohl das richtige Wort.
    Tante Charlies Ehe war diejenige, die ich am besten hatte beobachten können, denn Onkel Cyril war erst gestorben, als ich schon zwölf Jahre alt war.
    Er war ein Mann von schwerem Körperbau, mit großem Kopf, der durch dichte, lockige Haare noch massiver wirkte. Er trug eine Brille, deren eines Glas dunkelbraun war, um das Auge zu verbergen, das in seiner Kindheit verletzt worden war. Ich weiß nicht, ob dieses Auge völlig blind war. Ich habe es nie gesehen, und mir wurde übel, wenn ich

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