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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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machen kann, aber nicht schwanger.
    Schwanger wurde jedoch ein anderes Mädchen. Eine andere Frau, könnte man sagen, denn sie war acht Jahre älter als der beschuldigte Vater.
    Leo.
    Die Frau arbeitete in einem Textiliengeschäft in der Stadt.
    »Und ihr Ruf war nicht das, was man astrein nennt«, sagte Tante Charlie, als sei das ein trauriges, widerwilliges Eingeständnis.
    Es hatte oft andere Mädchen, andere Frauen gegeben. Das hatte den Anlass für die Kräche geliefert. Deshalb hatte meine Großmutter ihren Galan vors Schienbein getreten und aus seiner eigenen Kutsche gestoßen, um mit seinem Pferd allein nach Hause zu fahren. Deshalb hatte sie ihm eine Schachtel Pralinen an den Kopf geworfen. Und dann darauf herumgetrampelt, damit sie nicht aufgehoben und gegessen werden konnten, falls er so frech und gefräßig sein sollte, es zu versuchen.
    Aber diesmal war sie so ruhig wie ein Eisberg. Sie sagte nur: »Dann wirst du sie wohl heiraten müssen, meinst du nicht?«
    Er sagte, er sei gar nicht sicher, dass es sein Kind sei.
    Und sie sagte: »Aber du bist auch nicht sicher, dass es nicht deins ist.«
    Er sagte, das lasse sich alles regeln, er brauche nur einzuwilligen, Alimente zu zahlen. Er sagte, das sei ohnehin alles, worauf sie aus sei.
    »Aber das ist nicht alles, worauf ich aus bin«, sagte Selina. Dann sagte sie, sie sei darauf aus, dass er das Rechte tue.
    Und sie gewann. Binnen kurzem heiratete er die Frau aus dem Textilgeschäft. Und gar nicht lange danach heiratete auch meine Großmutter – Selina – meinen Großvater. Sie wählte für ihre Hochzeit dieselbe Zeit wie ich – den tiefsten Winter.
    Leos Baby – falls es seins war, und wahrscheinlich war es das – wurde im späten Frühjahr geboren, und als es schließlich entbunden wurde, war es tot. Seine Mutter überlebte das nur um eine Stunde.
    Bald traf ein Brief ein, adressiert an Charlie. Aber er war nicht für sie. Darin steckte ein weiterer Brief, den sie Selina geben sollte.
    Selina las ihn und lachte. »Sag ihm, ich bin so groß wie eine Scheune«, sagte sie. Obwohl es ihr fast noch gar nicht anzusehen war, und so erfuhr Charlie von ihrer Schwangerschaft.
    Das Baby, mit dem sie damals schwanger ging, war mein Vater, geboren zehn Monate nach der Hochzeit mit beträchtlichen Schwierigkeiten für die Mutter. Er sollte das einzige Kind bleiben, das sie und mein Großvater je bekamen. Ich fragte Tante Charlie, warum. Hatte meine Großmutter Verletzungen erlitten oder hatte sie Verwachsungen, die eine weitere Niederkunft zu riskant machten? Offensichtlich hatte sie keine Probleme mit der Empfängnis, sagte ich, da mein Vater einen Monat nach der Hochzeit gezeugt worden sein musste.
    Ein Schweigen, dann sagte Tante Charlie: »Darüber weiß ich nichts.« Sie flüsterte nicht, sondern sprach mit normaler Lautstärke, ihr Ton ein wenig fern, ein wenig verletzt oder auch vorwurfsvoll.
    Warum dieser Rückzieher? Was hatte sie verletzt? Ich glaube, es war meine klinische Frage, mein Gebrauch eines Wortes wie Empfängnis. Es mochte bereits das Jahr 1951 sein, und ich sollte bald heiraten, und sie hatte mir gerade eine Geschichte von Leidenschaft und unglücklicher Schwangerschaft erzählt. Aber es schickte sich immer noch nicht für eine junge Frau – oder auch eine alte, so kühl, kenntnisreich und schamlos von solchen Dingen zu reden. Empfängnis, also wirklich.
    Es kann noch einen anderen Grund für Tante Charlies Reaktion gegeben haben, an den ich damals nicht dachte. Tante Charlie und Onkel Cyril hatten nie Kinder. Soweit ich weiß, gab es auch nie eine Schwangerschaft. Gut möglich also, dass ich ins Fettnäpfchen getreten war.
    Für einen Augenblick sah es so aus, als würde Tante Charlie nicht weitererzählen. Sie schien entschieden zu haben, dass ich es nicht verdiente. Aber dann konnte sie doch nicht anders.
    Leo ging danach fort, reiste durchs Land. Er arbeitete bei Holzfällern in Northern Ontario. Er zog mit Mähdreschern mit und verdingte sich im fernen Westen. Als er Jahre später zurückkam, hatte er eine Frau bei sich und irgendwo das Tischlern und Dachdecken gelernt, also machte er das. Die Frau war eine nette Person, eine ehemalige Lehrerin. Irgendwann bekam sie ein Kind, aber es starb, wie das vorige. Beide wohnten in der Stadt, gingen aber in keine der dortigen Kirchen – sie gehörte einer der komischen Sekten an, die es dort draußen im Westen gab. Also lernte niemand sie näher kennen. Und niemand erfuhr, dass sie an

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