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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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aß. In Vancouver war es natürlich erst neun Uhr morgens.
    »Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen«, sagte Michael. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht, denn du hast nichts von dir hören lassen. Was ist denn bloß los?«
    »Nichts«, sagte ich. Ich überlegte, wann ich ihm zuletzt geschrieben hatte. Länger als eine Woche war es bestimmt nicht her. »Ich hatte viel um die Ohren«, sagte ich. »Es gab hier einiges zu tun.«
    Ein paar Tage zuvor hatten wir den Speicher mit Sägemehl gefüllt. Das verbrannten wir in unserer Heizung – der billigste Brennstoff, der zu haben war. Aber wenn es in den Speicher gefüllt wurde, entstanden Wolken aus sehr feinem Staub, der sich überall niederließ, sogar auf dem Bettzeug. Und egal, wie viel Mühe man sich gab, man schleppte ihn unweigerlich an den Schuhen mit ins Haus. Viel Fegen und Ausschütteln und Abwischen waren erforderlich, um ihn loszuwerden.
    »Hab ich mir gedacht«, sagte er – obwohl ich ihm noch nichts von dem Sägemehlproblem berichtet hatte. »Warum tust du all diese Arbeit? Warum besorgen sie sich keine Haushälterin? Müssen sie doch sowieso, wenn du erst weg bist.«
    »Gut«, sagte ich. »Hoffentlich gefällt dir mein Kleid. Hab ich dir erzählt, dass Tante Charlie mein Hochzeitskleid näht?«
    »Kannst du nicht reden?«
    »Eigentlich nicht.«
    »Na gut. Dann schreib mir.«
    »Werd ich. Noch heute.«
    »Ich streiche gerade die Küche an.«
    Er hatte in einer Mansarde mit einer Kochplatte gehaust, aber vor kurzem eine kleine Wohnung gefunden, in der wir unser gemeinsames Leben beginnen konnten.
    »Willst du nicht mal wissen, in welcher Farbe? Ich sag’s dir. Gelb mit weißem Holz. Weißen Schränken. Damit so viel Licht wie möglich reinkommt.«
    »Hört sich wirklich hübsch an«, sagte ich.
    Als ich den Hörer auflegte, sagte mein Vater: »Kein Zwist zwischen Liebenden, hoffe ich?« Er sprach auf affektierte, neckische Weise, um das Schweigen im Raum zu brechen. Trotzdem war ich verlegen.
    Mein Bruder kicherte.
    Ich wusste, was sie über Michael dachten. Er lächelte ihnen zu strahlend, war zu glatt rasiert mit zu blank geputzten Schuhen, war zu wohlerzogen und zu herzlich höflich. Hatte ohne Frage nie einen Stall ausgemistet oder einen Zaun repariert. Sie hatten die Angewohnheit von armen Leuten – vielleicht besonders von armen Leuten, die mit mehr Intelligenz ausgestattet sind, als sie von ihrem Status her haben dürften –, die Angewohnheit oder das Bedürfnis, aus Höherstehenden oder jenen, die sie im Verdacht hatten, sich für Höherstehende zu halten, solche Karikaturen zu machen.
    Meine Mutter war nicht so. Michael fand ihre Billigung. Und er war höflich zu ihr, trotz seiner Beklommenheit angesichts ihrer undeutlichen, verzweifelten Sprechweise, ihrer zitternden Gliedmaßen und der Art, wie ihre Augen außer Kontrolle gerieten und sich nach oben verdrehten. Er war kranke Menschen nicht gewohnt. Oder arme Menschen. Aber er hatte sein Bestes getan, während eines Besuchs, der für ihn entsetzlich gewesen sein muss, eine trostlose Gefangenschaft.
    Aus der er mich unbedingt retten wollte.
    Diese Menschen am Tisch – bis auf meine Mutter – hielten mich bis zu einem gewissen Grade für eine Verräterin, denn ich blieb nicht, wo ich hingehörte, blieb nicht in diesem Leben. Obwohl sie es auch gar nicht von mir verlangten. Eigentlich waren sie froh, dass jemand mich haben wollte. Vielleicht fanden sie es bedauerlich oder ein wenig beschämend, dass es keiner der Jungen aus der Gegend war, doch sie verstanden, warum das nicht ging und warum es so für mich rundherum besser war. Sie hatten das Verlangen, mich bitter wegen Michael zu necken, aber insgesamt waren sie der Meinung, dass ich an ihm festhalten sollte.
    Ich hatte auch vor, an ihm festzuhalten. Ich wünschte, sie könnten verstehen, dass er Humor hatte, nicht so aufgeblasen war, wie sie dachten, und sich nicht vor Arbeit fürchtete. Ebenso, wie ich mir wünschte, er könnte verstehen, dass mein Leben hier nicht so traurig oder elend war, wie es ihm vorkam.
    Ich hatte vor, an ihm und zugleich an meiner Familie festzuhalten. Ich dachte, dass ich immer mit ihnen verbunden bleiben würde, so lange ich lebte, und dass er mich durch keine Kritik und keinen Spott von ihnen fortbringen könnte.
    Und ich dachte, ich liebte ihn. Liebe und Ehe. Das war ein hell erleuchteter und angenehmer Raum, in den man ging, in dem man sicher war. Die Liebhaber, die ich mir vorgestellt hatte, die bunt

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