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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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daran dachte – ich stellte mir etwas Glupschendes aus dunklem, wackelnden Gallert vor. Er durfte jedenfalls Auto fahren, und er fuhr sehr schlecht. Ich erinnere mich, wie meine Mutter nach Hause kam und erzählte, dass sie ihn und Tante Charlie in der Stadt gesehen hatte, er hatte mitten auf der Straße gewendet, und sie sagte, sie habe keine Ahnung, wieso man ihm das durchgehen ließ.
    »Charlie setzt jedes Mal, wenn sie in dieses Auto steigt, ihr Leben aufs Spiel.«
    Man ließ es ihm durchgehen, nehme ich an, weil er in der Gegend jemand von Wichtigkeit war, weithin bekannt und geschätzt, umgänglich und selbstbewusst. Wie mein Großvater war er Farmer, wandte aber nicht viel Zeit an den Hof. Er war öffentlicher Notar und Schriftführer des Landkreises, in dem er lebte, und er hatte in der Liberalen Partei etwas zu sagen. Es war einiges Geld vorhanden, das nicht aus der Landwirtschaft kam. Vielleicht aus Hypotheken – es wurde von Anlagen gesprochen. Er und Tante Charlie hielten einige Kühe, aber keine anderen Tiere. Ich erinnere mich, dass er im Stall stand und den Entrahmer drehte, in Hemd und Anzugweste, in deren Tasche sein Füllfederhalter und sein Drehbleistift steckten. Ich kann mich nicht erinnern, je gesehen zu haben, wie er die Kühe molk. Machte das alles Tante Charlie, oder hatten sie einen Tagelöhner?
    Falls Tante Charlie Angst vor seiner Fahrweise hatte, so zeigte sie es nie. Beider gegenseitige Zuneigung war legendär. Das Wort
Liebe
wurde nicht benutzt, sie
hingen sehr aneinander
. Mein Vater sprach davon, einige Zeit nach Onkel Cyrils Tod, dass Onkel Cyril und Tante Charlie wirklich aneinander gehangen hatten. Ich weiß nicht, wie er darauf kam – wir saßen gerade im Auto, und vielleicht hatte es eine Bemerkung – einen Scherz – über Onkel Cyrils Fahrweise gegeben. Mein Vater betonte das Wort
wirklich
, als wolle er bestätigen, dass Eheleute so füreinander empfinden sollten, dass aber solch ein Verhältnis, auch wenn viele behaupteten, so füreinander zu empfinden, selten war.
    Zum einen redeten Onkel Cyril und Tante Charlie sich mit Vornamen an. Kein Mutter und Dad. So hob ihre Kinderlosigkeit sie heraus und verband sie miteinander nicht durch ihre Funktion, sondern durch ihr eigenes Ich. (Sogar mein Großvater und meine Großmutter redeten voneinander, zumindest, wenn ich dabei war, als Oma und Opa und erhöhten die Funktion um einen Verwandtschaftsgrad.) Onkel Cyril und Tante Charlie benutzten nie Koseworte oder Kosenamen, und ich sah sie nie einander berühren. Ich glaube heute, dass es eine Harmonie, einen Strom der Zufriedenheit zwischen ihnen gab, der die Luft um sie so aufhellte, dass sogar ein ichbezogenes Kind ihn wahrnehmen konnte. Aber vielleicht meine ich, mich an etwas zu erinnern, das mir erzählt worden ist. Ich bin mir jedoch sicher, dass die anderen Gefühle, an die ich mich entsinne – das Gefühl von Pflicht und Anspruch, das um meinen Vater und meine Mutter ins Ungeheure wuchs, die muffige Luft voll Gereiztheit, voll ständigem Unbehagen, die meine Großeltern umgab –, in dieser einen Ehe nicht da waren, und dass dies als etwas Bemerkenswertes betrachtet wurde, wie ein strahlender Tag in einer unsicheren Jahreszeit.
     
    Weder meine Großmutter noch Tante Charlie machten viele Worte von ihren toten Ehemännern. Meine Großmutter nannte ihren jetzt bei seinem Namen – Will. Sie sprach ohne Groll oder Traurigkeit, wie von einem Schulkameraden. Tante Charlie erzählte gelegentlich von »deinem Onkel Cyril«, wenn sie mit mir allein und meine Großmutter nicht im Zimmer war. Was sie zu sagen hatte, mochte sein, dass er nie Wollsocken trug oder dass seine Lieblingskekse Haferplätzchen mit Dattelfüllung waren oder dass er als Erstes am Morgen eine Tasse Tee haben wollte. Meistens verwendete sie dabei ihr vertrauliches Flüstern – auch um anzudeuten, dass es sich um eine bedeutende Persönlichkeit handelte, die wir beide gekannt hatten, und dass sie, wenn sie
Onkel
sagte, mir die Ehre erwies, mit ihm verwandt zu sein.
     
    Michael rief mich an. Das war eine Überraschung. Er ging sparsam mit seinem Geld um, eingedenk der Verantwortung, die auf ihn zukam, und zu jener Zeit führten Leute, die sparsam mit ihrem Geld umgingen, keine Ferngespräche, es sei denn, es gab einen besonderen, meistens ernsten Anlass.
    Unser Telefon befand sich in der Küche. Michaels Anruf kam gegen Mittag, an einem Samstag, als meine Familie dicht daneben saß und ihr Mittagbrot

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