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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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beschäftigt war. Er roch angenehm nach Rasierseife und Tabak (ich hatte ein wenig Angst vor dem Geruch alter Leute und war erleichtert, wenn er sich ertragen ließ), und er war freundlich zu mir, ohne mich auszufragen.
    Dann war er tot, und ich ging mit meiner Mutter und meinem Vater zu seiner Beerdigung. Ich wollte ihn mir nicht ansehen, und ich musste es auch nicht. Die Augen meiner Großmutter waren rot, mit vielen kleinen Fältchen ringsherum. Sie beachtete mich kaum, also ging ich hinaus und rollte den grasbewachsenen Abhang zwischen dem Haus und dem Bürgersteig hinunter. Das war eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, wenn ich dort war, und niemand hatte es mir je verwehrt. Aber diesmal rief meine Mutter mich herein und klopfte mir die Grashalme aus dem Kleid. Sie war in einem Zustand der Verärgerung, der bedeutete, dass ich mich in einer Weise benahm, die ihr zum Vorwurf gemacht werden würde.
    Wie ging es meinem Großvater als jungem Mann damit, dass meine Großmutter als junges Mädchen in seinen Vetter Leo verliebt war? Hatte er damals schon ein Auge auf sie geworfen? Machte er sich Hoffnungen, wurden seine Hoffnungen von dem feurigen Liebesabenteuer, das sich unter seinen Augen abspielte, zunichte gemacht? Denn feurig war es – ein denkwürdiges Liebesverhältnis mit Krächen und Versöhnungen, die weder ihm noch irgendjemandem sonst in der Nachbarschaft verborgen bleiben konnten. Denn wie, außer in aller Öffentlichkeit, konnte sich eine Liebesgeschichte zu jener Zeit abspielen, wenn das Mädchen ehrbar war? Spaziergänge in den Wald kamen nicht in Frage, sich vom Tanzboden verdrücken auch nicht. Besuche im Haus des Mädchens fanden unter Aufsicht der ganzen Familie statt, zumindest bis zur Verlobung. Fahrten in einer offenen Kutsche wurden aus jedem Küchenfenster entlang der Straße beobachtet, und wenn eine Ausfahrt nach Einbruch der Dunkelheit überhaupt zustande kam, dann innerhalb entmutigender zeitlicher Grenzen.
    Trotzdem ergaben sich Augenblicke der Zweisamkeit. Die jüngeren Schwestern meiner Großmutter, Charlie und Marian, wurden als Anstandswauwaus mitgeschickt, aber einige Male ausgetrickst und bestochen.
    »Sie waren so verrückt nach einander, wie zwei nur sein können«, sagte Tante Charlie, als sie mir davon erzählte. »Sie waren Teufel.«
    Dieses Gespräch fand in jenem Herbst vor meiner Hochzeit statt, der Zeit des Kofferpackens. Meine Großmutter sah sich gezwungen, eine Auszeit von dieser Arbeit zu nehmen, sie lag oben im Bett wegen ihrer Venenentzündung. Seit Jahren schon trug sie elastische Bandagen, um ihre hervortretenden Krampfadern zu stützen. Derart hässlich ihrer Meinung nach – sowohl die Bandagen als auch die Krampfadern –, dass niemand sie sehen sollte. Tante Charlie erzählte mir im Vertrauen, dass die Adern sich um ihre Beine wanden wie dicke schwarze Schlangen. Alle zwölf Jahre etwa entzündete sich eine Vene, und dann musste sie stillliegen, damit sich ja kein Blutgerinnsel losriss und ins Herz gelangte.
    Während der drei oder vier Tage, die meine Großmutter im Bett verbrachte, kam Tante Charlie nicht gut mit dem Packen voran. Sie war es gewohnt, dass meine Großmutter die Entscheidungen traf.
    »Selina ist der Chef«, sagte sie ohne Groll. »Ich weiß nicht, was ich ohne Selina anfangen würde.« (Und das sollte sich als wahr erweisen – nach dem Tod meiner Großmutter kam Tante Charlie schlagartig nicht mehr mit ihrem Alltag zurecht und musste in ein Pflegeheim gebracht werden, wo sie im Alter von achtundneunzig Jahren starb, nach langem Schweigen.)
    Statt das Packen gemeinsam in Angriff zu nehmen, saßen wir beide am Küchentisch, tranken Kaffee und redeten. Oder flüsterten. Tante Charlie hatte die Angewohnheit zu flüstern. In diesem Fall mag es einen Grund gegeben haben – meine Großmutter, die noch gut hören konnte, lag direkt über uns, doch oft gab es keinen. Ihr Flüstern schien lediglich eine der Spielarten ihres Charmes zu sein – nahezu jeder fand sie charmant, um einen in ein intimeres, bedeutsameres Gespräch zu ziehen, auch wenn sie nur etwas über das Wetter sagte, nicht – wie jetzt – etwas über das stürmische Leben meiner jugendlichen Großmutter.
    Was geschah? Halb hoffte ich, halb fürchtete ich zu erfahren, dass meine Großmutter zu jener Zeit, als sie noch nicht im Traum daran dachte, meine Großmutter zu werden, unversehens schwanger geworden war.
    Stürmisch war sie, und so durchtrieben, wie die Liebe einen nur

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