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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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gibt – den Krankenhausschwestern, dem Krankenhaus, der Regierung –, aber ich bin es nicht gewohnt, Ärzte so aufbrausen zu sehen, und das Letzte, was ich von ihm will, ist ein Eingeständnis der Hilflosigkeit. Das kommt mir vor wie ein schlechtes Omen für meinen Vater.
    »Ich mache Ihnen keine Vorwürfe …«, sage ich.
    »Dann machen Sie mir auch keine.«
    Die Schwester hat das Telefongespräch beendet. Sie sagt mir, dass ich in die Aufnahme gehen und einige Formulare ausfüllen muss. »Haben Sie seine Karte?«, sagt sie. Und zum Arzt: »Gleich wird einer gebracht, der auf dem Lucknow-Highway verunglückt ist. Soweit ich weiß, ist es nicht allzu schlimm.«
    »Ja, ja.«
    »Ist eben Ihr Glückstag.«
     
    Mein Vater ist in ein Vierbettzimmer gelegt worden. Ein Bett ist leer. In dem Bett neben ihm, dem am Fenster, ist ein alter Mann, der flach auf dem Rücken liegen muss und Sauerstoff bekommt, aber sich unterhalten kann. In den letzten zwei Jahren, sagt er, ist er neunmal operiert worden. Den größten Teil des letzten Jahres hat er im Militärkrankenhaus in der großen Stadt verbracht.
    »Sie haben alles rausgenommen, was man rausnehmen kann, und dann haben sie mich mit Tabletten vollgestopft und zum Sterben nach Hause geschickt.« Er sagt das, als sei es ein Witz, den er schon viele Male mit Erfolg erzählt hat.
    Er hat ein Radio, das er auf einen Rocksender eingestellt hat. Vielleicht kann er nur diesen Sender empfangen. Vielleicht mag er ihn.
    Gegenüber von meinem Vater steht das Bett eines weiteren alten Mannes, der aus dem Bett herausgeholt und in einen Rollstuhl gesetzt worden ist. Er hat kurzgeschnittene, immer noch dichte weiße Haare und den großen Kopf und gebrechlichen Körper eines kränkelnden Kindes. Er trägt ein kurzes Krankenhausnachthemd und sitzt breitbeinig im Rollstuhl, sodass ein Nest mit ausgetrockneten braunen Hoden zu sehen ist. Vorn an seinem Rollstuhl ist ein Tablett wie das Tablett an einem Kinderstühlchen. Er hat einen Waschlappen zum Spielen bekommen. Er rollt den Waschlappen zusammen, dann schlägt er dreimal mit der Faust darauf. Danach entrollt er ihn, rollt ihn sorgfältig wieder auf und schlägt wieder mit der Faust darauf. Er schlägt immer dreimal darauf, einmal an jedem Ende und einmal in der Mitte. Der Vorgang wiederholt sich, immer im selben Tempo.
    »Dave Ellers«, sagt mein Vater leise.
    »Kennst du ihn?«
    »Ja, sicher. Alter Eisenbahner.«
    Der alte Eisenbahner wirft uns einen kurzen Blick zu, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Ha«, sagt er warnend.
    Mein Vater sagt, offenbar ohne Ironie: »Mit ihm ist es steil bergab gegangen.«
    »Also du bist der am besten aussehende Mann in diesem Zimmer«, sage ich. »Auch der am besten angezogene.«
    Da lächelt er, schwach und pflichtschuldig. Sie haben ihn den kastanienbraun und grau gestreiften Schlafanzug anziehen lassen, den Irlma für ihn aus der Verpackung genommen hat. Ein Weihnachtsgeschenk.
    »Fühlt es sich für dich an, als hätte ich ein bisschen Fieber?«
    Ich fasse seine Stirn an, die brennend heiß ist.
    »Vielleicht ein bisschen. Sie werden dir was geben.« Ich beuge mich vor, um zu flüstern. »Ich glaube, du hast auch einen Vorsprung beim intellektuellen Wettrennen.«
    »Was?«, sagt er. »Ach, so.« Er schaut sich um. »Kann sein, dass ich ihn nicht behalte.« Noch während er das sagt, wirft er mir den verzweifelten, hilflosen Blick zu, den ich im Laufe des Tages zu deuten gelernt habe, und ich greife zu der Schale auf dem Nachttisch und halte sie ihm hin.
    Während mein Vater würgt, stellt der Mann mit den neun Operationen sein Radio lauter.
    Klebe an der Decke
    Schau kopfüber zu
    Wie die Leute kreisen
    Immer-, immerzu.
    Ich fahre nach Hause und esse mit Irlma zusammen zu Abend. Danach werde ich wieder ins Krankenhaus fahren. Irlma wird morgen hinfahren. Mein Vater hat gesagt, es sei besser, sie käme anderntags.
    »Erst, wenn die mich wieder unter Kontrolle haben«, sagte er. »Ich will nicht, dass sie sich aufregt.«
    »Buster ist irgendwo da draußen«, sagt Irlma. »Ich rufe ihn, aber er kommt nicht. Und wenn er zu mir nicht kommt, dann kommt er zu niemandem.«
    Buster ist eigentlich Irlmas Hund. Der Hund, den sie mitbrachte, als sie meinen Vater heiratete. Teils deutscher Schäferhund, teils Collie, ist er sehr alt, übel riechend und von Grund auf missmutig. Irlma hat recht – er traut niemandem außer ihr. Immer wieder steht sie während unserer Mahlzeit auf und ruft von der Küchentür

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