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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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erstaunt, dass irgendjemand versuchen konnte, sie derartig zu kränken, wo sie doch gerade ganz glücklich mit sich war und aufblühte. Sie sagte, wenn es eins gebe, das sie nicht ausstehen könne, dann seien das Leute, die ihr Böses unterstellten, Leute, die dermaßen empfindlich seien. Und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Aber da kam mein Vater herunter, und sie vergaß ihre eigene Kränkung – vergaß sie wenigstens vorübergehend – vor lauter Sorge um ihn, nur noch darauf bedacht, ihm etwas vorzusetzen, das er essen konnte.
    Vor lauter Sorge? Ich könnte auch sagen, vor lauter Liebe. Ihr Gesicht plötzlich ganz weich, rosa, zärtlich, strahlend vor Liebe.
     
    Ich spreche am Telefon mit Dr. Parakulam.
    »Was meinen Sie denn, warum er so hohes Fieber hat?«
    »Er hat irgendwo eine Entzündung.«
Allem Anschein nach
lässt er weg.
    »Er bekommt – ich nehme doch an, er bekommt dagegen Antibiotika?«
    »Er bekommt alles.«
    Kurzes Schweigen.
    »Wo hat er denn diese …«
    »Ich lasse ihn heute daraufhin untersuchen. Blutproben. Ein weiteres EKG .«
    »Meinen Sie, es liegt am Herz?«
    »Ja. Im Grunde genommen. Das ist die Hauptursache. Sein Herz.«
     
    Am Montagnachmittag ist Irlma ins Krankenhaus gefahren. Ich wollte sie hinbringen – sie hat keinen Führerschein, aber Harry Crofton kam mit seinem Pick-up vorbei, und sie hat sich entschieden, mit ihm zu fahren, damit ich zu Hause bleiben kann. Sowohl sie als auch mein Vater sind ängstlich besorgt, dass immer jemand
das Haus hütet
.
    Ich gehe hinaus zur Scheune. Ich hole einen Ballen Heu herunter, schneide die Schnüre darum auf und breite das Heu aus.
    Wenn ich herkomme, bleibe ich für gewöhnlich von Freitagabend bis Sonntagabend, nicht länger, und jetzt, wo ich bis in die nächste Woche hinein geblieben bin, scheint etwas in meinem Leben außer Kontrolle geraten zu sein. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, dass dies nur ein Besuch ist. Die Busse, die Orte miteinander verbinden, scheinen mit mir nicht mehr so fest in Verbindung zu stehen.
    Ich trage einfache Sandalen, billige Wasserbüffel-Sandalen. Dieses Schuhwerk wird von vielen Frauen getragen, die ich kenne, und soll auf eine Vorliebe für das Landleben deuten, auf einen Glauben an die einfachen und natürlichen Dinge. Es ist nicht praktisch, wenn man die Arbeit tut, die ich jetzt tue. Pieksende Heuhalme und Schafköttel, groß und schwarz wie Rosinen, geraten zwischen meine Zehen.
    Die Schafe drängen sich um mich. Seit sie im Sommer geschoren worden sind, ist ihre Wolle nachgewachsen, aber nicht sehr lang. Gleich nach der Schur sehen sie aus der Ferne Ziegen erstaunlich ähnlich, und auch jetzt noch sind sie weder weich noch rund. Die großen Hüftknochen stehen hervor, die gehörnten Stirnen. Ich rede mit zusammengenommenem Mut auf sie ein, breite das Heu aus. Ich schütte ihnen Hafer in den langen Trog.
    Leute, die ich kenne, sagen, dass solche Arbeit erholsam ist und eine besondere Würde hat, aber ich wurde in sie hineingeboren und empfinde sie anders. Zeit und Ort können mich umzingeln, es kann mir leicht so vorkommen, als sei ich nie fort gewesen, als hätte ich mein ganzes Leben hier verbracht. Als sei mein Leben als Erwachsene nur ein Traum, der nie recht Besitz von mir ergriffen hat. Ich sehe mich nicht wie Harry und Irlma, die sich in diesem Leben einigermaßen wohl gefühlt haben, oder wie meinen Vater, der sich hineingefunden hat, sondern eher wie eine von diesen Außenseiterinnen, diesen Gefangenen – nahezu nutzlos, alleinstehend, verkümmert –, die hätte fortgehen sollen, aber es nie tat, nie konnte, und jetzt nirgends mehr hinpasst. Ich muss an einen Mann denken, der eines Winters seine Kühe verhungern ließ, nachdem seine Mutter gestorben war, nicht weil der Kummer ihn lähmte, sondern weil er einfach keine Lust hatte, in den Stall zu gehen und sie zu füttern, und weil niemand mehr da war, um es ihm zu befehlen. Ich halte das für möglich, ich kann es mir vorstellen. Ich kann mich als eine Tochter in mittleren Jahren sehen, die ihre Pflicht tat, zu Hause blieb und dachte, eines Tages werde ihre Chance kommen, bis sie aufwachte und wusste, sie würde nie kommen. Jetzt liest sie die ganze Nacht lang und macht niemandem mehr die Tür auf und geht verdrossen und geistesabwesend hinaus, um den Schafen Heu vorzuwerfen.
     
    Tatsächlich kommt, als ich mit den Schafen fertig bin, Irlmas Nichte Connie auf den Hof gefahren. Sie hat ihren jüngeren Sohn von der Schule

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