Wozu wollen Sie das wissen?
am leichtesten zu erkennenden Überbleibsel, wenn man aus dem Autofenster schaut. Miniaturgebirgszüge, Drachenrücken – sie zeigen den Verlauf der Flüsse an, die sich unter dem Eis einen Weg bahnten, im rechten Winkel zu seiner Vorderkante. Reißende Ströme, beladen mit Kies, den sie unterwegs abwarfen. Meistens verläuft ein kleines, sanftmütiges Bächlein entlang eines Eskers – ein direkter Nachkomme jenes tosenden Flusses.
Das Orange steht für Überlaufrinnen, die breiten Kanäle, in denen das Schmelzwasser abfloss. Und das Dunkelgrau zeigt die Sümpfe, die sich in den Überlaufrinnen gebildet haben und immer noch da sind. Blau zeigt den Lehmboden an, wo das Eiswasser in Seen gefangen war. Dieses Land ist flach, aber nicht eben, und Lehmwiesen haben etwas Saures und Klumpiges. Schwerer Boden, hartes Gras, schlechter Wasserablauf.
Wiesengrün steht für den Böschungsgeschiebelehm mit der wunderbar glatten Oberfläche, die der alte Lake Warren in den Lagern ebnete, die sich entlang des Ufers vom heutigen Lake Huron erstrecken.
Rote Striche und rote, gestrichelte Linien auf dem Böschungsgeschiebelehm oder auf dem benachbarten Sand deuten auf die Überreste der Steilufer und der verschwundenen Strände jener Vorfahren der Großen Seen, deren Umrisse jetzt nur noch an einem sanften Anstieg des Landes zu erkennen sind. Die Namen, die sie erhalten haben, sind prosaisch und modern und könnten kaum amtlicher klingen – Lake Warren, Lake Whittlesey.
Oben auf der Halbinsel Bruce befindet sich Kalkstein unter einer dünnen (hellgrauen) Erdschicht, und um den Owen Sound und auf Cape Rich findet sich Schieferton, am Grunde des Niagara-Steilabbruchs, der dort zutage tritt, wo der Kalkstein abgetragen wurde. Bröckeliges Gestein, das zu Ziegeln von derselben Farbe verarbeitet werden kann, in der es auf der Karte ausgewiesen ist – rosarot.
Meine Lieblinge unter all diesen Landschaftsformen habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben. Nämlich die Geschiebehügel oder Hügelmoränen, die auf der Karte in dunklem Rotbraun eingezeichnet sind und zumeist in Klecksen, nicht in Bändern vorkommen. Ein großer Klecks hier, ein kleiner dort. Geschiebehügel zeigen an, wo ein Block toten Eises hockte, abgeschnitten vom Rest des wandernden Gletschers, mit Erde und Steinen in seinen Löchern und Spalten. Oder manchmal zeigen sie an, wo zwei Eiszungen sich trennten und die Spalte dazwischen sich auffüllte. Endmoränen sind auf sozusagen vernünftige Weise hügelig, nicht so glatt wie Drumlins, aber dennoch harmonisch, rhythmisch, während Hügelmoränen völlig wild und holperig sind, unberechenbar, mit einem Anschein von Zufall und Geheimnis.
Nichts davon lernte ich in der Schule. Ich glaube, es herrschte damals eine Verunsicherung, weil man die Bibel im Hinblick auf die Erschaffung der Erde nicht Lügen strafen wollte. Ich eignete es mir an, als ich mit meinem zweiten Mann, einem Geographen, hierher zog. Als ich entgegen allen meinen Erwartungen in die Landschaft zurückkehrte, in der ich aufgewachsen bin. Mein Wissen ist daher frisch, unbelastet. Es bereitet mir ein besonderes und naives Vergnügen, das, was ich auf der Karte sehe, mit dem, was ich aus dem Autofenster sehen kann, in Einklang zu bringen. Auch, einen Tipp abzugeben, in welcher Landschaftsformation wir uns gerade befinden, bevor ich auf die Karte schaue, und ziemlich oft richtig zu liegen. Ich finde es aufregend, die Grenzen der verschiedenen Geschiebelehmebenen auszumachen oder die Stellen, wo Hügelmoränen die Endmoränen ablösen.
Aber da ist immer noch mehr als nur der kleine Triumph des Erkennens. Da ist das Vorhandensein all dieser unterschiedlichen Bereiche, jeder mit seiner eigenen Entstehungsgeschichte, seinen bevorzugten Kulturpflanzen und Bäumen und Wildpflanzen – Eichen und Fichten beispielsweise, die gerne auf Sand wachsen, so wie Zedern und verirrter Flieder auf Kalkstein, jeder mit seinem besonderen Ausdruck, seiner Wirkung auf die Phantasie. Das Vorhandensein all dieser Ländchen, verborgen und unvermutet, ähnlich und verschieden, wie Geschwister es sein können, in einer Gegend, die üblicherweise als eintönige landwirtschaftliche Nutzfläche abgetan wird. Dieses Vorhandensein wird einem lieb und teuer.
Ich dachte, der Termin, den ich hatte, sei für eine Biopsie, doch dem war nicht so. Es war ein Termin, damit der Arzt in der Stadt entscheiden konnte, ob er nach der Untersuchung meiner Brust und den Ergebnissen der
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