Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
alles zusammenpumpte, um sie genau dahin zu bringen, wo sie jetzt sind? Andrew bringt es nicht fertig, Walter kann nur Witze reißen, und Mary schafft es nicht, in Gegenwart ihres Vaters den Mund aufzumachen.
    Agnes kommt aus einer großen Hawick-Familie von Webern, die jetzt in den Fabriken arbeiten, aber viele Generationen lang zu Hause gearbeitet haben. Und bei der Arbeit dort lernten sie all die Kunstfertigkeiten, einander in die Schranken zu weisen, auf engstem Raum zu zanken und zu überleben. Sie ist immer noch erstaunt von den steifen Umgangsformen, der stummen Ehrerbietung in der Familie ihres Mannes. Sie kamen ihr alle von Anfang an sonderbar vor, und daran hat sich nichts geändert. Sie sind so arm wie ihre eigene Familie, aber sie halten sich für etwas Besseres. Und was haben sie vorzuweisen, um das zu rechtfertigen? Der alte Mann ist seit Jahren ein Wirtshauswunder, und sein Vetter ist ein zerlumpter, lügenhafter Poet, der sich nach Nithsdale davonmachen musste, weil ihm in Ettrick niemand mehr die Schafe anvertrauen wollte. Alle sind bei drei Tanten aufgewachsen, drei Hexenweibern, die solche Angst vor Männern hatten, dass sie davonliefen und sich im Schafpferch versteckten, wenn irgendjemand, der nicht zu ihrer Familie gehörte, des Wegs kam.
    Als wären es nicht die Männer gewesen, die vor ihnen hätten davonlaufen müssen.
    Walter ist zurückgekommen, er hat ihre schwereren Habseligkeiten in ein tieferes Deck hinuntergetragen.
    »Ihr habt so was noch nicht gesehen, solche Berge von Kisten und Kasten und Säcken mit Mehl und Kartoffeln«, sagt er aufgeregt. »Man muss drüberklettern, um an die Wasserleitung zu kommen. Keiner kann umhin, auf dem Weg zurück das Wasser zu verschütten, und die Säcke werden gründlich nass werden, und das Zeug wird faulen.«
    »Sie hätten das nicht alles mitbringen sollen«, sagt Andrew. »Haben die vom Schiff sich nicht verpflichtet, uns zu verpflegen, als wir unsere Überfahrt bezahlt haben?«
    »Ja«, sagt der alte Mann. »Aber wird das auch genießbar sein?«
    »Bloß gut, dass ich meine Kuchen mitgenommen habe«, sagt Walter, immer noch dazu aufgelegt, über alles Witze zu machen. Er tippt mit dem Fuß auf die hübsche, mit Haferkuchen gefüllte Blechdose, die seine Tanten ihm als besonderes Geschenk mitgegeben haben, weil er der Jüngste ist und für sie immer noch der Junge ohne Mutter.
    »Mal sehen, wie lustig du’s finden wirst, wenn wir verhungern«, sagt Agnes. Walter ist ihr ein Dorn im Auge, fast ebenso sehr wie der alte Mann. Sie weiß, dass sie wahrscheinlich nicht Gefahr laufen, zu verhungern, denn Andrew sieht ungeduldig aus, aber nicht besorgt. Es braucht natürlich ziemlich viel, bis Andrew sich Sorgen macht. Um sie ist er offensichtlich nicht besorgt, da er als Erstes daran dachte, seinem Vater einen bequemen Sitzplatz herzurichten.
     
    Mary hat den kleines James wieder an Deck gebracht. Sie spürte, dass er es in dem Halbdunkel da unten mit der Angst bekam. Er braucht nicht zu greinen oder zu jammern – sie erkennt seine Gefühle an der Art, wie er seine kleinen Knie in sie bohrt.
    Die Segel werden eingeholt. »Schau mal da oben, da oben«, sagt Mary und zeigt zu einem Matrosen, der hoch droben in den Wanten am Werk ist. Der kleine Junge auf ihrer Hüfte sagt seinen Laut für Vogel. »Matrose-piep, Matrose-piep«, sagt sie. Sie reden miteinander in einer Halb-und-halb-Sprache – halb die Wörter, die sie ihm beibringen will, und halb die Wörter, die er erfunden hat. Sie ist davon überzeugt, dass er eines der klügsten Kinder ist, die je das Licht der Welt erblickt haben. Als ältestes Kind und einziges Mädchen hat sie für alle ihre Brüder sorgen müssen und ist seinerzeit auf jeden stolz gewesen, aber solch ein Kind hat sie noch nie erlebt. Niemand sonst hat auch nur eine Ahnung davon, wie einfallsreich und selbständig und klug er ist. Männer können mit so kleinen Kindern nichts anfangen, und Agnes, seine Mutter, hat keine Geduld mit ihm.
    »Red wie ein Mensch«, sagt Agnes zu ihm, und wenn er es nicht tut, kann es sein, dass sie ihm eine Kopfnuss gibt. »Was bist du?«, fragt sie. »Bist du ein Mensch oder ein Wechselbalg?«
    Mary fürchtet die Zornesausbrüche von Agnes, macht sie ihr aber nicht zum Vorwurf. Sie findet, dass Frauen wie Agnes – Männerfrauen, Mutterfrauen – ein schreckliches Leben führen. Erst, was die Männer ihnen antun – sogar ein so guter Mann wie Andrew, und dann, was die Kinder ihnen antun, wenn

Weitere Kostenlose Bücher