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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Hunger.
    Wie musste er es anstellen, um im Gasthaus ein bisschen Milch zu stehlen?
    Er konnte sich nicht weiter mit diesem Problem beschäftigen, denn ihm fiel etwas auf.
    Die Schuppentür stand auf, dabei hatte er sie doch zugemacht.
    Kein Geschrei war zu hören, kein Laut.
    Und keine Spur vom Wickelkind.
     
    Die meisten Männer, die im Gasthaus übernachteten, hatten sich Schlafzimmer genommen, aber ein paar lagen, wie Andrew mit seinen Neffen James und John, auf Matten auf dem Holzfußboden der langen Veranda.
    Andrew wurde kurz vor Mitternacht davon wach, dass seine Blase drückte. Er stand auf, ging die Veranda entlang, warf einen Blick nach den Jungen, um zu sehen, ob sie schliefen, trat dann ins Freie und beschloss anstandshalber, hinters Haus zu gehen, hinunter zur Weide, wo er im Mondlicht sah, dass die Pferde im Stehen schliefen und träumend mampften.
     
    James hatte die Schritte seines Onkels gehört und die Augen zugemacht, hatte aber nicht geschlafen.
    Entweder war das Wickelkind diesmal wirklich gestohlen worden, oder es war von einem Tier weggezerrt und zerfleischt und wahrscheinlich halb aufgefressen worden. Es gab keinen Grund, warum er etwas damit zu tun haben sollte oder warum man ihm die Schuld geben sollte. Vielleicht würde Becky irgendwie die Schuld bekommen, wenn er schwor, dass er sie im Wald gesehen hatte. Sie würde schwören, sie sei nicht da gewesen, aber er würde schwören, doch, sie sei da gewesen.
    Denn sie würden ganz bestimmt umkehren. Sie mussten schließlich das Wickelkind beerdigen, falls sie je etwas davon fanden, und selbst falls nicht, mussten sie doch einen Trauergottesdienst abhalten, oder etwa nicht? Also würde es so kommen, wie er gewollt hatte. Seiner Mutter allerdings würde es sehr schlecht gehen.
    Ihre Haare konnten über Nacht weiß werden.
    Wenn das die gegenwärtige Art seines Vaters war, die Dinge zu lenken oder zu regeln, dann war es sehr viel rigoroser als alles, was ihm zu seinen Lebzeiten eingefallen wäre.
    Und wenn er so unbarmherzig oder willkürlich vorging, würde es seinen Vater dann überhaupt kümmern, ob Jamie die Schuld bekam?
    Außerdem merkte seine Mutter womöglich, dass er etwas damit zu tun hatte, etwas, was er nicht zugab. Sie brachte das manchmal fertig, obwohl sie die Lüge über Becky Johnson ohne weiteres geschluckt hatte. Wenn sie die Wahrheit erfuhr oder auch nur ahnte, würde sie ihn für immer hassen.
    Er konnte beten, falls die Gebete eines Lügners irgendeinen Wert hatten. Er konnte beten, dass die Kleine von einer Indianerin geholt worden war, wenn auch nicht von Becky Johnson, und dass sie in einem Indianerlager aufwachsen und eines Tages an die Tür klopfen würde, um Indianerschmuck zu verkaufen, und sie würde sehr schön sein und von seiner Mutter sofort erkannt werden, die einen Freudenschrei ausstoßen und wieder aussehen würde, wie sie ausgesehen hatte, bevor sein Vater gestorben war.
    Schluss damit. Wie konnte er sich so etwas Dummes ausdenken?
     
    Andrew ging in den Schatten der Scheune und erleichterte sich. Dabei hörte er einen merkwürdigen, schwachen Laut der Qual. Er dachte, es sei ein Nachttier, vielleicht eine Maus in einer Falle. Als er seine Hose zugeknöpft hatte, hörte er das Geräusch wieder, und diesmal war es deutlich genug, so dass er ihm nachgehen konnte. Um die Scheune herum, über den Wirtschaftshof zu einem Nebengebäude, das eine richtige Tür hatte, nicht nur eine fürs Vieh. Das Geräusch war jetzt lauter, und als Vater mehrerer Kinder erkannte er es.
    Er klopfte an die Tür, zweimal, und als niemand antwortete, drückte er auf die Klinke. Die Tür war nicht verriegelt und ging nach innen auf. Der Mond schien durch ein Fenster herein auf ein Wickelkind. Tatsächlich, ein Wickelkind. Es lag auf einer schmalen Pritsche mit einer rauhen Decke und einem flachen Kissen, die jemandes Bettstatt sein musste. Haken an den Wänden trugen ein paar Kleidungsstücke und eine Laterne. Hier schlief wohl der Stalljunge. Aber er war nicht da, war immer noch draußen – wahrscheinlich drüben in dem anderen, verlotterten Gasthof, der Bier und Whisky ausschenkte. Oder er tändelte mit einem Mädchen herum.
    An seiner Stelle lag auf dem Bett dieses hungrige Wickelkind.
    Andrew hob es auf und bemerkte den Zettel nicht, der dabei herausfiel. Er hatte nie groß darauf geachtet, wie Marys kleines Kind aussah, und er tat es auch jetzt nicht. Er fand es äußerst unwahrscheinlich, dass in ein und derselben Nacht zwei

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