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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Haus, ganz wie eine verheiratete Frau.
    In einer Halloween-Nacht – wobei Halloween zu jener Zeit eher ein Anlass für böse Streiche war als zur Ausgabe von Süßigkeiten – wurde ein Bündel vor die Tür von Forrest und Lizzie gelegt. Lizzie machte am Morgen die Tür als Erste auf. Sie dachte überhaupt nicht mehr an Halloween, um das sich niemand in der Familie je geschert hatte, und als sie die Form des Bündels sah, schrie sie auf, mehr vor Staunen als vor Verärgerung. In seiner zerlumpten Hülle sah sie die Form eines Wickelkindes, und ihr war irgendwie etwas von ausgesetzten Säuglingen zu Ohren gekommen, die Leuten auf die Türschwelle gelegt wurden, damit sie sich ihrer annahmen. Einen ganzen Augenblick lang muss sie gedacht haben, eben dies sei ihr widerfahren, sie sei tatsächlich ausgesucht worden für solch ein Geschenk und solch eine Aufgabe. Dann kam Forrest aus dem hinteren Teil des Hauses dazu und sah, wie sie sich bückte und es aufhob, und er wusste sofort, was es war. Sie auch, sobald sie es anfasste. Ein Bündel Stroh in Sackleinwand, mit Schnüren zusammengebunden, damit es einem Säugling ähnelte, das Gesicht mit Kreide an der entsprechenden Stelle aufgemalt, um grob ein Kindergesicht anzudeuten.
    Forrest, der weniger unschuldig war als Lizzie, verstand die Anspielung, nahm ihr das Bündel weg, riss es in Stücke und warf alles ins Herdfeuer.
    Sie merkte, dass dies etwas war, wonach sie besser nicht fragte oder es auch nur je erwähnte, und sie tat es auch nie. Er sprach ebenfalls nie davon, und so hat die Geschichte nur als Gerücht überlebt, von denen, die sie weitergaben, jedes Mal mit einem missbilligenden Fragezeichen versehen.
     
    »Sie haben sehr aneinander gehangen«, sagte meine Mutter, die ihnen zwar nie begegnet war, aber große Achtung hatte vor brüderlich-schwesterlichen Beziehungen, nicht von Sex befleckt.
    Mein Vater hatte sie in der Kirche gesehen, als er ein Kind war, und mag sie mit seiner Mutter zusammen ein paar Mal besucht haben. Sie waren nur Vetter und Kusine zweiten Grades seines Vaters, und er glaubte nicht, dass sie je ins Haus seiner Eltern gekommen waren.
    »Wenn man bedenkt, was ihre Vorfahren getan haben«, sagte er. »Die Tatkraft, die es brauchte, um sich aufzuraffen und den Ozean zu überqueren. Was hat bloß ihre Lebensgeister erstickt? So bald.«

Von der Hände Arbeit leben
    Als mein Vater zwölf Jahre alt war und die Dorfschule so lange wie möglich besucht hatte, fuhr er in die Stadt, um eine Reihe von Klausuren zu schreiben. Ihr richtiger Name lautete Aufnahmeprüfungen, aber sie waren allgemein als Aufnahme bekannt. Die Aufnahme bedeutete buchstäblich die Aufnahme in die Oberschule, aber sie bedeutete auch auf undefinierbare Weise die Aufnahme in die Welt. Die Welt der Berufe wie dem des Arztes oder Anwalts oder Ingenieurs oder Lehrers. Jungen vom Lande betraten diese Welt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg leichter als eine Generation später. Es war eine Zeit des Wohlstands in Huron County und des Aufschwungs im Land. Es war das Jahr 1913 , und das Land war noch keine fünfzig Jahre alt.
    Mein Vater bestand die Aufnahme mit Auszeichnung und ging auf die Weiterführende Schule in der Stadt Blyth. Weiterführende Schulen boten vier Jahre Oberschule an, ohne das letzte Jahr namens Höhere Schule oder Fünfte Klasse – dafür musste man in eine größere Stadt. Es sah aus, als sei er dabei, seinen Weg zu machen.
    In seiner ersten Woche an der Weiterführenden Schule hörte mein Vater den Lehrer ein Gedicht vortragen.
    Grobe Männer finden Bleistiel,
    Heben Diebe weiß wie weit,
    Wenn’s der Rebenente einfiel,
    Birke litt die meiste Zeit.
    Er trug das immer als Witz vor, aber in Wahrheit hörte er es damals nicht als Witz. Um dieselbe Zeit ging er ins Schreibwarengeschäft und verlangte kandiertes Papier.
    Kandiertes Papier
.
    Kariertes Papier.
    Bald danach sah er das Gedicht an der Tafel stehen und staunte.
    Große Männer sind dir Beispiel,
    Geben dir im Geist Geleit,
    Denn dein Streben kennt nur ein Ziel:
    Wirke mit am Geist der Zeit.
    Auf solch eine einleuchtende Erklärung hatte er nicht zu hoffen gewagt, hätte auch nicht im Traum danach gefragt. Er war durchaus willens, den Leuten in der Schule das Recht zuzugestehen, eine fremde Sprache oder Logik zu verwenden. Er bat sie nicht darum, sich für ihn verständlich auszudrücken. Er besaß einen gewissen Stolz, der wie Bescheidenheit wirken mochte, ihn ängstlich und empfindlich machte,

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