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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Angst – er wird uns nicht sehen.«
    Bevor das Anwesen der Newcombes in Sicht kam, kletterten wir eine Böschung auf der anderen Straßenseite hoch, wo hinter einem angepflanzten Windschutz aus Rottannen dichter Sumach wuchs. Als Dahlia vor mir nur noch gebückt weiterging, tat ich es ihr gleich. Und als sie stehen blieb, blieb ich auch stehen.
    Da war der Stall, da war der Hof voller Kühe. Sobald wir stehen blieben und keine eigenen Geräusche mehr zwischen den Zweigen machten, wurde mir bewusst, dass wir schon lange das Stampfen und Muhen der Kühe gehört hatten. Anders als die meisten Gehöfte erstreckte sich das der Newcombes entlang der Straße. Das Haus, der Stall, der Viehhof, alle lagen zur Straße hin.
    Es gab auf den Weiden noch nicht genug frisches Gras für die Kühe – die tiefer gelegenen Weiden standen immer noch unter Wasser, aber sie wurden aus dem Stall gelassen, um vor dem abendlichen Melken Bewegung zu haben. Hinter unserem Sumachdickicht hervor konnten wir über die Straße und auf sie hinunterschauen, wie sie einander rempelten und im Schlamm herumstapften, unruhig und klagend wegen ihrer vollen Euter. Selbst wenn ein Zweig unter uns knackte oder wir mit normaler Stimme sprachen, war dort drüben zu viel los, als dass jemand uns hören konnte.
    Raymond, ein Junge von etwa zehn Jahren, kam um die Ecke des Viehstalls. Er hatte einen Stock, tippte aber damit den Kühen nur auf den Rücken, schubste sie und sagte: »Ho-Bos, ho-Bos« in gemütlichem Rhythmus und drängte sie zur Stalltür. Es war die Art von gemischter Herde, wie sie die meisten Farmer zu der Zeit hatten. Eine schwarze Kuh, eine rostrote, eine hübsche goldbraune, die teils eine Jersey gewesen sein muss, sowie andere, in sämtlichen Variationen von Braun und Weiß und Schwarz und Weiß gescheckte. Sie hatten noch ihre Hörner, und das gab ihnen einen Ausdruck von Würde und Wildheit, den heutige Kühe verloren haben.
    Eine Männerstimme, Bunt Newcombes Stimme, rief aus dem Stall.
    »Beeil dich. Was soll die Trödelei? Willst du dir die ganze Nacht lang Zeit lassen?«
    Raymond rief zurück: »Ja doch.
Ja
doch.« Der Ton seiner Stimme teilte mir nichts mit, nur, dass er keine Angst zu haben schien. Doch Dahlia sagte leise: »Prima. Er gibt ihm Bescheid. Gut für ihn.«
    Bunt Newcombe kam aus einer anderen Tür des Stalls. Er trug einen Overall und einen schmutzigen Kittel, statt des Büffelmantels, den ich für sein natürliches Kostüm hielt, und er ging mit einem merkwürdigen Schwung des einen Beines.
    »Lahmes Bein«, sagte Dahlia, im selben leisen, aber ungemein zufriedenen Tonfall. »Ich hab gehört, Belle hat ihn getreten, und ich hab gedacht, das ist zu schön, um wahr zu sein. Bloß schade, dass es nicht sein Kopf war.«
    Er hielt eine Mistgabel in den Händen. Aber er schien Raymond nichts antun zu wollen. Er benutzte die Gabel lediglich dazu, den Mist zu dieser Tür hinauszuschaffen, während die Kühe zur anderen hineingetrieben wurden.
    Vielleicht war ihm ein Sohn weniger verhasst als seine Töchter?
    »Wenn ich ein Gewehr hätte, könnte ich ihn jetzt erwischen«, sagte Dahlia. »Ich sollte es tun, solange ich noch jung genug bin, damit nicht ich diejenige bin, die am Galgen endet.«
    »Du würdest ins Gefängnis kommen«, sagte ich.
    »Na und? Der betreibt doch selber ein Gefängnis. Vielleicht würden sie mich nie kriegen. Vielleicht würden sie mir nie auf die Spur kommen.«
    Sie konnte doch nicht meinen, was sie da sagte. Wenn sie wirklich so etwas vorhatte, wäre es dann nicht dumm von ihr, mir etwas davon zu sagen? Ich könnte sie verraten. Ich hatte es nicht vor, aber jemand könnte es aus mir herausholen. Wegen des Krieges dachte ich oft daran, wie es wohl wäre, gefoltert zu werden. Wie viel konnte ich aushalten? Wenn ich beim Zahnarzt war und er einen Nerv traf, dachte ich, wenn ein solcher Schmerz immer weiterginge, außer ich verriete, wo sich mein Vater beim Widerstand versteckt, was würde ich tun?
    Als die Kühe alle drin waren und Raymond und sein Vater die Stalltüren geschlossen hatten, gingen wir, immer noch gebückt, durch den Sumach zurück, und sobald wir außer Sicht waren, kletterten wir zur Straße hinunter. Ich dachte, Dahlia würde jetzt sagen, das mit dem Erschießen sei nur Spaß gewesen, aber sie tat es nicht. Ich fragte mich, warum sie nichts über ihre Mutter gesagt hatte, warum sie keine Sorge um ihre Mutter, so wie um Raymond, geäußert hatte. Dann dachte ich, dass sie ihre Mutter

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