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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Mädchen, die an dieser Parade teilnahmen, stammten nicht aus den besten Kreisen – wie meine Mutter gesagt hätte, mit sehnsüchtigem und leicht sarkastischem Unterton. Keine von ihnen hatte einen Wintergarten im Haus oder einen Vater, der nicht nur sonntags einen Anzug trug. Mädchen dieser Sorte waren jetzt zu Hause oder im Haus einer ihrer Freundinnen, wo sie Monopoly spielten oder Sahnebonbons machten oder Frisuren ausprobierten. Meine Mutter bedauerte es, dass ich nicht in diesen Kreis aufgenommen wurde.
    Aber mir war es recht. So konnte ich eine Rädelsführerin und ein Großmaul sein. Falls das eine Maskerade war, so war es eine, die mir leichtfiel. Oder vielleicht war es auch gar keine Maskerade, sondern nur eine der völlig unverbundenen und ungleichartigen Persönlichkeiten, aus denen ich zu bestehen schien.
    Auf einem leer stehenden Grundstück am Nordende der Stadt hatten einige Mitglieder der Heilsarmee Posten bezogen. Da waren ein Prediger und ein kleiner Chor zum Singen der Lieder und ein dicker Junge an der Trommel. Ferner ein hochgeschossener Junge mit Posaune, ein Mädchen mit Klarinette und einige halbwüchsige Kinder mit Tamburins.
    Leute von der Heilsarmee gehörten noch weniger zu den besten Kreisen als die Mädchen, mit denen ich mich herumtrieb. Der Mann, der predigte, war der Rollkutscher, der die Kohlen brachte. Ohne Zweifel hatte er sich gründlich gewaschen, aber sein Gesicht hatte immer noch einen grauen Schatten. Schweiß lief ihm von der Anstrengung des Predigens herunter, und dieser Schweiß schien auch grau zu sein. Einige Autos hupten beim Vorbeifahren, um ihn zu übertönen. (Trotz der Benzinrationierung gab es einige Autos, die von jungen Männern die Straße hinauf nach Norden und die Straße hinunter nach Süden gefahren wurden, wieder und wieder.) Die meisten Leute gingen mit beklommenen, aber ehrerbietigen Gesichtern vorbei, aber einige blieben stehen, um zuzuschauen. Wie wir, die wir auf etwas zum Lachen warteten.
    Die Musikinstrumente wurden für ein Lied angesetzt, und ich sah, dass der Junge, der die Posaune hob, der Stalljunge war, der auf dem Hof gestanden hatte, als Miriam McAlpin mich heruntergeputzt hatte. Er lächelte mir mit den Augen zu, als er zu spielen anfing, und sein Lächeln schien nicht aus der Erinnerung an meine Demütigung zu kommen, sondern aus einer Freude, die sich nicht unterdrücken ließ, als weckte mein Anblick die Erinnerung an ganz etwas anderes als jene Szene, an ein natürliches Glücksgefühl.
    »Doch im Blut liegt die Kraft, liegt die Kraft, Kraft, Kraft«, sang der Chor. Die Tamburins wurden über den Köpfen der Spieler geschwungen. Spaß und Freude steckten die Umstehenden an, sodass viele anfingen, in fröhlicher Ironie mitzusingen. Und wir gestatteten uns, es ihnen gleichzutun.
    Bald danach war der Gottesdienst zu Ende. Die Geschäfte schlossen, und wir machten uns auf unsere verschiedenen Heimwege. Es gab für mich eine Abkürzung, eine Fußgängerbrücke über den Fluss. Als ich sie fast überquert hatte, hörte ich hinter mir schnelle, schwere Schritte, eine Art Stampfen. Die Bohlen unter meinen Füßen bebten. Ich drehte mich halb um, rückte ans Geländer, etwas verängstigt, aber bemüht, es nicht zu zeigen. Bei der Fußgängerbrücke standen keine Straßenlaternen, und es war inzwischen völlig dunkel.
    Als er näher kam, sah ich, dass es der Posaunist in seiner schweren dunklen Uniform war. Der Posaunenkasten, der gegen das Geländer schlug, verursachte das stampfende Geräusch.
    »Alles in Ordnung«, sagte er atemlos. »Ich bin’s bloß. Ich hab nur versucht, dich einzuholen.«
    »Woher hast du gewusst, dass ich es bin?«, fragte ich.
    »Ich konnte ein bisschen was sehen. Ich wusste, dass du in dieser Richtung wohnst. An deinem Gang hab ich gemerkt, dass du es bist.«
    »Wieso?«, fragte ich. Bei den meisten Leuten hätte mich solche Anmaßung zu wütend gemacht, um zu fragen.
    »Ich weiß nicht. Einfach die Art, wie du gehst.«
     
    Er hieß Russell Craik. Seine Familie gehörte zur Heilsarmee, sein Vater war der Rollkutscher-Prediger, und seine Mutter war eine von den Choristinnen. Weil er seinem Vater bei der Arbeit geholfen hatte und Pferde gewohnt war, hatte Miriam McAlpin ihn bei sich eingestellt, gleich nachdem er von der Schule abgegangen war. Nach der achten Klasse. Was zu jener Zeit bei Jungen nichts Ungewöhnliches war. Wegen des Krieges gab es genug Möglichkeiten für sie, Geld zu verdienen, während sie darauf

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